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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Vater?«, wollten einige von ihnen wissen. »Geht’s ihr bald wieder besser?« Ich wusste nicht, wie ich sagen sollte: »Mein Vater lebt in einem Männerheim, und nein, ihr geht’s nicht bald wieder besser, sie wird sterben.« Alles, was ich tun konnte, war, sie zu übernehmen und ihnen zu danken, bevor ich die Tür zumachte. Den Rest musste ich bewältigen, und zwar allein. Ich nahm mich meiner Mutter an und säuberte sie; half ihr, nackt und verletzlich, wie sie war, in ein warmes Bad; wusch ihr Haar, wobei es büschelweise in meiner Hand landete. Manchmal erbrach sie sich in der Badewanne, und wir fingen noch mal ganz von vorn an.
    Das Badezimmer war mir langsam geläufiger als jedes andere Zimmer der Wohnung. Der behördengrüne Anstrich an den Wänden, das flackernde Licht, das dieses Grün auf alles im Badezimmer warf, auf meine Hände während sie ihrer täglichen Verrichtung nachgingen, Blut, Urin und Kotze von den Fliesen zu entfernen. Dieses Licht, das grün auf der blassen Haut meiner Mutter blitzte, während ihr Herz noch schlug, regelmäßig, aber mit der Zeit immer langsamer. Während sie im seichten Wasser saß, rieb ich ihr, einem zusammengefallenen Häuflein Knochen, mit einem Waschlappen über den mageren Rücken, beschämt durch meine eigene gesunde Fülle, meine fließenden Bewegungen und meine Jugend. Wie unfair, dass ich aufblühte, während sie stetig weniger wurde, immer weiter verschwand; die einzige erfolgreich arbeitende Funktion, die in ihr verblieben war, erfüllte dieses Virus, das sie uns still und heimlich wegnahm. Ja, ihr Herz schlug noch, aber nur, um das Gift zu verteilen, es hielt sie am Leben und tötete sie nur noch schneller.
    Erstaunlicherweise kann sich der Geist abschotten, wenn man gleichzeitig zu viele Dinge auf die Reihe kriegen muss. Wenn ich
einen Moment lang vergessen hatte, dass mit meiner Mutter etwas ganz und gar nicht in Ordnung war, so erinnerten mich diese Begegnungen mit aller Wucht an alles, was ich vorgezogen hatte zu ignorieren. Nachdem ich sie aus der Wanne gehoben, ihr saubere Sachen angezogen und sie sorgfältig ins Bett gelegt hatte, gab es aber trotzdem immer wieder einen Weg, das alles sofort wieder aus dem Kopf zu verbannen. Ich musste nur die Tür leise hinter mir zuziehen und in eine andere Welt gleiten, eine, in der viele Freunde waren, die mich mochten, Orte, an die ich gehen konnte, wo es endlose Abenteuer mit Sam zu bestehen gab. Dort behelligte mich niemand. Wir hatten Oberwasser, und Verantwortung war etwas, womit sich die anderen herumschlagen mussten. Außerdem waren wir eine kleine Familie. Welche Gefahren sollten da schon auf mich warten, wo sich so viele Leute — und vor allem Carlos – um mich kümmerten?
    In der Woche, bevor meine Mutter ausschließlich in Krankenhäusern zu leben begann, fand ich heraus, wie sehr er zu mir stand. Vor Carlos sorgte ich allein für meine Mutter, sogar wenn Lisa, Sam und Bobby dabei waren. Nicht, dass ich ihnen Vorwürfe machte. Wenn sie betrunken nach Hause kam, war meine Mutter kein schöner Anblick, geschweige denn angenehm anzufassen, zu halten, zu baden und wieder anzuziehen. Ich verstand das. Ich hegte keinen Groll gegen Sam oder Bobby, wenn sie von der Couch aus zusahen, wie ich diese Prüfung immer wieder durchlief. Aber das ist auch der Grund dafür, warum ich so beeindruckt war, als Carlos es nicht genauso machte.
    »Sie braucht mehr Ansprache, wer redet denn mit ihr?«, fragte er mich eines Tages, als wir sie gemeinsam aufs Bett sinken ließen. Im Wohnzimmer plärrte laute Musik gegen Gelächter und Gequatsche an. Ich versuchte ihn wegzuscheuchen, ihn wissen zu lassen, dass ich gut damit klarkam, aber er wusste es besser. Als Ma vorhin nach Hause gekommen war, war er herbeigeeilt, um ihren Arm zu halten und ihren Rücken zu stützen – und zwar nicht zögerlich, sondern beherzt, als ob er geradewegs durch das hässliche
Antlitz der Krankheit und ihrer selbst auf den Mensch hinter dem Ganzen blicken könnte.
    »Jean, Sie scheinen gerade ein bisschen Unterstützung zu brauchen. Ich werde Liz beistehen, Ihnen zu helfen.«
    »Wer bist du?«, stieß sie stammelnd zwischen ihren Tränen hervor.
    »Ich bin jemand, der Liz sehr liebt, jemand, der Sie kennenlernen wollte«, sagte er ihr. Wenn mir etwas Besseres eingefallen wäre, darauf zu reagieren, hätte ich nicht weggesehen. Er liebt mich? Hat er das wirklich gerade gesagt? Die ganze Zeit über, während ich sie wusch, rührte er sich nicht von

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