Als der Tag begann
unfähig, ihr eigenes Gewicht von der Toilette in die Höhe zu hieven, oder sie würde hilflos weinend in ihrem Bett nach einem Glas Wasser rufen. Also sah ich auf regelmäßigen Besuchsrunden nach ihr, trennte mich von meinen Freunden, um Ma, das war mir klar, auf ihrem Sterbelager zu besuchen. Es fiel mir schwer, vor mir selbst zuzugeben, dass ich mich innerlich immer stärker gegen diese Besuche sträubte.
6
Jungs
Sam und ich waren noch nicht bereit für richtige Freunde, für die Auswirkungen, die das Verliebtsein in einen Jungen auf dein ganzes Leben haben kann. Ich denke nur, dass vielleicht vieles anders ausgegangen wäre, wenn wir dafür bereit gewesen wären, wenn uns jemand darüber aufgeklärt hätte.
Carlos betrat die Bühne als Gast des Pulks, aber durch seine extrem starke Persönlichkeit rückte er fast sofort ins Zentrum des Geschehens vor. Eines faulen Nachmittags im Herbst, als wir die Treppe zu Fiefs Wohnung hinaufgingen, schallte uns männliches, streitlustiges Gehänsel im Treppenhaus entgegen.
»Hörst du das?«, fragte ich Sam.
»Klar, klingt, als hätte jemand lauter Bekloppte aus der Klapse freigelassen.«
»Ne, hör mal, ich glaube, das kommt aus Fiefs Wohnung.«
Als wir uns langsam der angelehnten Tür näherten und sie knarrend öffneten, schwebte eine Stimme, die eindeutige Nachrichtensprecherqualitäten hatte, donnernd über allen anderen.
»So, so, mein Lieber«, sagte die Stimme gerade, »gib dein Bestes. Zeig mir, was du zu verlieren hast … Na dann, schieß los!«
Als wir um die Ecke in Fiefs Wohnzimmer bogen, trafen wir auf eine bühnenreife Szene: Einige bekannte sowie ein paar unbekannte
Gesichter, insgesamt um die sieben Personen, fixierten ein Würfelspiel. Fief lehnte ein wenig abseits an der Wand. Als ich um eine Erklärung bittend in seine Richtung blickte, zuckte er nur mit den Achseln. Mitten im Zentrum des Geschehens machte ich den Besitzer der Stimme ausfindig.
Er war ein Fremder, ein hochgewachsener, schmaler Puerto Ricaner. Sein dunkles gewelltes Haar war zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden. Sein Outfit war erstklassiger Getto-Stil. Ausdrucksvolle braune Augen dominierten sein Gesicht, über seinen breiten Wangen verteilten sich Sommersprossen. Die Art, wie er sich bewegte, die Kraft in seiner Stimme – ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Hart schlug er einem anderen Typen mit der Hand auf den Rücken, und der Junge warf unverzüglich zwei Würfel, blöde, kleine rote Dinger, mit Schwung gegen die Wand.
Einen Moment lang war das Klicken ihres Aufpralls das einzige Geräusch im Zimmer. Dann schrien alle plötzlich los und rissen die Arme in die Höhe. Einer zeigte auf den Werfer und lachte ihm ins Gesicht.
»Wow«, rief der imposante Fremde aus. »Nah dran, mein Freund. Gib’s auf, das war dein Fehler.« Ein schlaksiger junger Mann, den ich erst ein paarmal bei Fief gesehen hatte, war der eindeutige Verlierer. Besiegt zählte er Geld in die Hand des Puerto Ricaners ab.
»Wer will noch mal?«, rief der Fremde.
»Sam, hast du den Typen schon mal gesehen?«, fragte ich sie über den Lärm hinweg.
»Nä!«
Ich blieb im Türrahmen des stickigen Zimmers stehen und ließ meinen Blick noch mindestens zwanzig Minuten lang über die Graffiti an der Wand und das weiterlaufende Spiel schweifen. Sam verlor das Interesse und ging in die Küche, um Fiefs Kühlschrank zu durchsuchen. Schließlich, nachdem er nach einer weiteren Gewinnrunde Bargeld von den anderen Mitspielern eingesammelt
hatte, schnappte sich der Fremde seine Würfel und beendete das Spiel abrupt.
»Das war’s, Gentlemen, bis zum nächsten Mal.« Im Raum erhob sich zischelnder, lautstarker Protest. »Ich würde ja weitermachen«, verkündete er und fuhr fort, das Geld in seinen Händen zu zählen, »aber ich habe zu tun. Ich führe sie zum Essen aus. Also gebt ihr die Schuld.« Plötzlich, und ohne aufzublicken, zeigte er mit einem Finger seiner Hand voller Bargeld genau auf mich. Dann zählte er weiter. Ich stand da wie gelähmt. Ein paar der Jungs blickten kurz auf, beachteten mich dann aber nicht weiter. Bis zu diesem Augenblick hatte ich noch nicht mal gewusst, dass er meine Anwesenheit überhaupt bemerkt hatte. Soweit ich das beurteilen konnte, hatte er nicht ein einziges Mal zu mir hergesehen.
Ich blickte mich in dem bevölkerten Zimmer um, deutete auf mich selbst und sagte lautlos: »Ich?« Ich war überzeugt davon, dass er mich jetzt gesehen hatte, aber er ging ohne
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