Als der Tag begann
eine Antwort nach nebenan. Ich sah, wie er sich von dort aus auf den Weg nach draußen machte und dabei verschiedenen Leuten die Hand schüttelte. Als er an mir vorbei war und begann, die Schlösser an der Haustür zu öffnen, bekam ich Herzflattern. Ich stand unbeweglich da und atmete den süßlichen Duft seines Eau de Cologne ein. Sam kam aus der Küche und war gerade dabei, mit Schokoladenfingern einen von Fiefs Eisriegeln zu essen. Die ganze Sache würde eine lustige Geschichte abgeben, wenn wir hier erst mal wieder weg waren.
Die Wohnungstür ging knarrend auf, und er hielt einen Moment inne.
»Also? Kommst du mit oder nicht?«, fragte er. Ich sah mich um, wen er sonst noch gemeint haben könnte. »Los, Kleine, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.« Er klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.
»Meinst du mich?«, fragte ich.
Als er in einer theatralischen Geste den einen Arm aus der Tür hinausschwang, lächelten wir uns an.
Ich versuchte, lässig zu wirken. »Kann meine Freundin mitkommen? «
Er hieß Carlos Marcano und war fast achtzehn Jahre alt. Er war in der Bronx aufgewachsen, genau wie wir. Von gleichgültigen Eltern vernachlässigt, war er von anderen Leuten auf der Straße erzogen worden. Er wurde niedergestochen. Eine Narbe auf seiner linken Wade, ein schmaler, erhabener Fleischwulst, war ihm von einem weiblichen Bandenmitglied mitgegeben worden; sie hatte mit einer Flaschenscherbe zugestochen. Wenn Carlos erzählte, jagte ein Witz den nächsten, egal, wie ernst das Thema war. Dieser schwarze Humor, der mich total beeindruckte, machte ihn unglaublich schlagfertig. Momentan hatte er sich bei einem Freund auf der Couch in einer Wohnung auf dem Bedford Park Boulevard eingenistet. Und eines Tages, trotz aller Mühsal, würde er ein berühmter Comedyschauspieler sein, davon war er überzeugt.
»Ich habe nur auf mich allein gestellt überlebt, Gott sei’s gepriesen. Der hier oben hat auf mich aufgepasst«, sagte er zu mir während unserer ersten Unterhaltung im Diner und deutete mit einem Finger gen Himmel. »Ihr Mädels wisst schon, was ich meine. Da draußen geht’s heiß her, aber du musst deinen Kopf hochhalten, bloß nicht einschlafen. Träumen , aber nicht einschlafen. Könnt ihr mir folgen?«
Stundenlang saß er mir und Sam gegenüber und blendete uns mit wahren Geschichten, gespickt mit gewalttätigen Streits, Bandenbrutalität und allen möglichen Extremsituationen, in die er durch sein Leben auf der Straße geraten war. Er war intelligent, erfinderisch, und die meiste Zeit über war er urkomisch, ungeachtet, wie düster es auch für ihn gewesen war. Jede einzelne seiner Geschichten nahm eine unglaubliche Wendung und riss uns wie in einem Strudel mit. Hin und wieder, sobald er etwas sagte oder tat, wodurch er besonders attraktiv wirkte, zwickte mich Sam unterm Tisch ins Bein.
Aber die Information, mit der Carlos tatsächlich meine Zuneigung
gewann und die meine Faszination für ihn endgültig besiegelte, kam bis spät in die Nacht hinein überhaupt nicht zur Sprache, bis wir so weit waren aufzubrechen. In gewisser Hinsicht, berichtete Carlos, sei er seit dem Aids-Tod seines Vaters, als er neun war, allein auf sich gestellt. Seine Mutter sei cracksüchtig und habe sich nie um ihn gekümmert.
»Die Pfeife war ihr wichtiger als ich. Das wusste ich«, sagte er. »Sie betete das Zeug an. Ich bin allein da rausgekommen.«
Genau dort stellte ich im Geist eine Checkliste unserer Gemeinsamkeiten auf. Er wusste über Aids und Drogen Bescheid, darüber, wie man allein klarkam, und er war trotzdem gut gelaunt und blickte nach vorn. Er versteckte sich vor nichts und niemandem. Die Außenwelt stellte für ihn kein Hindernis dar; sie war seine Bühne. Genau dort traf ich die Entscheidung, dass ich versuchen wollte, ihm nahe zu sein. Carlos hatte gelernt, auf eine bestimmte Art und Weise seine eigene Stärke anzuzapfen, und genau das hoffte ich auch irgendwann zu beherrschen. Ich fürchtete, es könnte zu früh sein, ihm zu sagen, wie viel wir gemeinsam hatten; es hätte sich wie ausgedacht angehört, es gab einfach zu viele Parallelen.
Als er über den Verlust seiner Familienstruktur redete und wie es dazu kam, dass er obdachlos wurde, starrte er pathetisch aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Menschenmenge.
»Mom schob mich von einem Verwandten zum nächsten ab, bis ich anfing, nach der Schule mit Freunden nach Hause zu gehen. Nach einer Weile wusste ich überhaupt nicht mehr, wo ich
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