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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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zu betrachten – am selben Ort, an dem Sam und ich vor zwei Monaten gestanden hatten, nachdem sie sich die Haare abgeschnitten hatte. Ich hatte einen einzigen ihrer kleinen Zöpfe behalten und in mein Tagebuch geklebt, neben eine Seite mit Karikaturen, die Sam von uns beiden, von Bobby und von Fief angefertigt hatte.
    Ich sah mein Spiegelbild missmutig an und erkannte meinen eigenen Gewichtsverlust, mein blasses Gesicht und die müden grünen Augen. Für einen Moment war ich erschrocken, glaubte ich doch Ma im Spiegel zu sehen, die mich anstarrte. Krank und
erschöpft kniff sie die Augen zu und wunderte sich, warum ich sie nur ein Mal in diesem Monat im Krankenhaus besucht hatte und wann ich, wenn überhaupt, wieder in die Schule gehen würde.
    »Ich denke mal, ich sollte ihm den Freiraum geben, wenn er ihn braucht«, sagte ich zu Sam und verbannte Mas Bild schnell aus meinem Kopf. Sam hatte den Hahn abgestellt, stützte sich auf meine Schulter, um aus der Duschwanne zu steigen, und begann sich abzutrocknen.
    »Schon, aber ich weiß, was dir Sorgen macht. Und du hast allen Grund dazu, mir geht’s genauso. Manchmal weiß ich überhaupt nicht, wie wir das ohne ihn auf die Reihe kriegen würden.« Sie sah mich besorgt an. »Mann, es ist eine Sache abzuwarten, bis wir endlich sesshaft werden, aber ich könnte diesen Scheiß nicht ertragen, wenn ich glauben müsste, dass es niemals aufhört.«
    »Wir schaffen das, Sam«, versicherte ich ihr ohne Grund.
    Es war eine berechtigte Sorge. Immer wenn Carlos wegging, mussten wir uns fragen, ob er jemals wiederkam. Ich wusste genauso gut wie Sam, dass das Leben blitzschnell eine Kehrtwende machen kann. Menschen infizierten sich mit Viren; Räumungsbescheide wurden zugestellt; man verliebte sich; Eltern ließen ihre Kinder einfach zurück. Stabilität war eine Illusion. Carlos hatte ähnliche Lücken in seinem Leben, genau wie Sam. Ohne ihn oder sie war ich mir nicht sicher, das durchzustehen.
    Der Pulk kümmerte sich um uns. Aber sie gingen abends nach Hause, gaben ihre Eltern einen Begrüßungskuss, beschwerten sich, wenn das Essen angebrannt war. Ich konnte mich bei ihnen wohlfühlen, aber nur, wenn ich Teile meiner selbst vergaß. Und ich hatte die Schnauze voll davon, allein zu sein. Ich würde nach Carlos und Sam greifen und sie, sosehr ich es konnte, festhalten.
    »Ich weiß auch nicht, ob wir das ohne ihn auf die Reihe kriegen«, stimmte ich Sam schließlich zu. Der Gedanke ängstigte mich, und ihn laut auszusprechen, ließ ihn noch wirklicher werden.

    An Halloween entlud sich die zwischen uns aufgestaute Anspannung. Obdachlos zu sein wurde immer schwieriger, und ich glaube, wir alle spürten, wie der Druck, die einfachsten Grundbedürfnisse nicht erfüllt zu bekommen, dich ein bisschen durchdrehen lässt. Hunger zehrt an deinen Nerven; Nervosität zehrt an deiner Energie, schlechte Ernährung und Stress zehren schlichtweg an allem, was du bist. Als ich ausgerechnet an Halloween beschloss, mich auf Carlos’ Verrücktheit einzulassen und selbst ein wenig Druck abzulassen, war mir nicht klar gewesen, wie angespannt ich tatsächlich war.
    »Happy Halloween … Heepy halawana !«, fiel ich in Carlos’ Geschrei ein, als ich hinter ihm durch Bedford Park ging, meine laute Stimme klang überraschend für mich selbst. Als Sam merkte, dass ich mitmachte, legte sie auch los. »Happy Fettuccine«, kreischte sie. Straße für Straße lärmte ich durch die Gegend, bis ich heiser war, schrie in die Nacht hinaus, in den Himmel hinein und fegte, überall, wo ich entlangkam, das rote und goldene Herbstlaub in den Rinnstein. Plötzlich fing ich an, genau wie Carlos, Dinge herumzuschmeißen; ich zertrümmerte Flaschen auf dem kalten Zement und half ihm dabei, Mülltonnen umzurempeln. Wir flippten alle drei total aus. Ich war so müde von der Herumzieherei, gleichzeitig wie im Rausch und wütend, ja, sogar voller Hass auf die Leute, die bei sich zu Hause in ihren Betten lagen und schliefen. Je mehr ich mich gehen ließ, desto besser fühlte es sich an. Carlos lächelte angesichts meiner Aktionen, reichte uns Flaschen zum Werfen und stachelte uns weiter an.
    Wir drei waren stundenlang unterwegs, schrien unflätig herum und schmissen harte Bonbons durch die Gegend. Vielleicht zogen wir aus Boshaftigkeit unter den Fenstern fast all unserer Freunde durch, um sie »versehentlich« aufzuwecken. Am ehesten erreichten wir das bei Bobby, der noch wach gewesen war und seinen Kopf aus dem Fenster

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