Als der Tag begann
eingerollt neben Sam lag, wünschte ich, ich wäre ihm nie begegnet.
Die dritte Nacht ohne Carlos verbrachten wir auf einem der schmalen Dächer, die an den Eingang der Bronx High School of Science stießen. Um uns herum lag, einsam und verlassen und gruselig, die enorme Weite des Fußballfeldes der Clinton High School . Der Himmel war grau und unruhig; der Wind zog mit geisterhaftem Geheul an uns vorbei. Mit dem Rücken an das nackte geteerte Podest gekauert, verschlangen Sam und ich, verfroren und immer noch allein, eine Tüte salziger Essigchips. In dieser Nacht waren wir die beiden einzigen Menschen auf Erden.
In der fünften Nacht unseres Umherwanderns, als wir ständig den Zug genommen und versucht hatten, bei Freunden unterzukommen, waren wir erledigt. Sam brachte die Idee auf, in ein Wohnheim zu gehen, und zwar, als wir so hungrig waren, dass wir keine Witze mehr reißen konnten. Als wir während der Nachtschicht das Tony’s durchquerten und direkt auf die Toiletten zusteuerten, um uns zu waschen, gaben uns der Geruch und der Anblick von Essbarem den Rest. Wir liefen durch die für diese Stunden vor dem Sonnenaufgang typische Ansammlung von nächtlichen Clubgängern. Auch ihr Zauber war schon sichtbar verflogen und jegliche Raffinesse verschwunden: Die Frauen saßen in paillettenbesetzten Kleidern mit zerflossenem Make-up
da, die BH-Träger verrutscht, während die Männer aus der Rolle fielen, zu nahe an sie heranrobbten und ihre Hände überall hatten. Mehrere betrunkene Paare belegten gemeinsam die abgetrennten Sitzecken und gönnten sich ein üppiges Frühstück aus Rösti, Eiern und hohen Gläsern mit Orangensaft. Am liebsten hätte ich einfach losgeschrien.
»Ich stinke zum Himmel«, sagte Sam im Toilettenraum. »Hör mal, Liz«, fuhr sie fort und sah zu mir hinüber, während sie ihre Unterhose im Waschbecken schrubbte, »ich weiß, du sagst, St. Anne’s war das Allerschlimmste, aber es fällt mir immer schwerer, das zu glauben.« Sie verrieb die pinkfarbene Seife aus dem Metallspender im Stoff.
Ich hatte meine Periode bekommen. Und keine Tampons. Also nahm ich stattdessen sorgfältig gefaltetes Toilettenpapier, mal wieder.
»Egal, was passiert, Sam, ich lass mich nicht wieder in so ein Gefängnis einsperren.«
»Ich mein ja nur, ich kann nur noch an Essen und Schlafen denken. Du solltest wenigstens mal kurz in Betracht ziehen, mit dorthin zu kommen.«
Doch stattdessen klauten wir.
Ein paar Stunden später, als die Gitter des C-Town-Supermarktes hochgingen, schlüpften wir hinein und taten so, als wären wir ganz normale Kunden. Mit raschen Handbewegungen ließen wir kalte, scharfe und süße Artikel leise raschelnd in unseren Rucksäcken verschwinden. Nervös schwätzend hauten wir durch die automatischen Türen ab und entwischten ohne Verfolger bis zum nahe gelegenen Spielplatz. Wir setzten uns auf ein Klettergerüst, rissen die Verpackungen auf und stopften uns Brot und Käse und Truthahn in den Mund, kauten, verschluckten uns, lachten und tranken den Orangensaft direkt aus der Packung.
In dieser Nacht übernachtete ich mit Sam im Treppenhaus bei Bobby und dachte über meine Möglichkeiten nach. Ich überlegte, zu Brick zurückzugehen, entschied mich aber schnell dagegen.
Mr. Doumbia hatte versprochen, mich wieder im Heim unterzubringen, wenn ich bei meiner Schulschwänzerei bliebe, und jetzt war ich seit Monaten nicht mehr zur Schule gegangen. Ich würde mich diesem System auf keinen Fall wieder unterordnen. Aber auf der Straße zu leben funktionierte auch nicht. Ich würde ja wieder als Tüteneinpacker arbeiten, aber die Gesetze gegen Kinderarbeit waren in den letzten Jahren ziemlich verschärft worden. Jetzt füllten Männer zwischen zwanzig und dreißig die Tüten, meistens offiziell beim Supermarkt angestellte Immigranten. Was die Tankstelle betraf, war ich jetzt alt genug, dass ich Angst davor hatte, etwas zu tun, das mir eine Verhaftung einbrachte, also fiel auch das weg. Ich wusste wirklich nicht mehr, was ich machen sollte. Aus einer Laune heraus ging ich in eine Telefonzelle und rief bei Brick an, auf der Suche nach Lisa. Ich legte sofort auf, als ich das erste Mal Brick in der Leitung hatte. Also rief ich ein paar Stunden später noch mal an und erreichte Lisa.
»Hey, wie geht’s?«, fragte ich.
»Lizzy? Wo verdammt noch mal steckst du?« Sie klang empört und wütend. Ihre Aggressivität ließ mich bedauern, dass ich überhaupt angerufen hatte.
»In einer Telefonzelle.
Weitere Kostenlose Bücher