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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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indem ich aus Carlos’ Selbstvertrauen schöpfte, insgeheim aber mehr mir selbst als ihr Mut zusprach. »Es gibt keinen Grund, sich zu schämen, es sind auch nur Menschen.«
    Es waren auch nur Menschen, aber wir schienen nicht zu dieser Gattung zu gehören. Wenn wir eine Person direkt ansprachen und sie nicht mehr für uns übrig hatte als einen kurzen Seitenblick, dann mussten wir einfach unsichtbar und unwirklich sein. Obwohl manche tatsächlich stehen blieben, um uns gute Ratschläge zu geben: »Geht zurück nach Connecticut« oder »geht arbeiten«, aber nicht lange genug abwarteten, damit wir hätten erklären können, dass wir nicht wussten, wo Connecticut lag, und dass man, um arbeiten zu können, eine richtige Adresse und saubere Kleidung brauchte. Dann gab’s noch die Leute mit freundlichen Gesichtern, die Münzen fallen ließen und beim Vorbeigehen lächelten. Sie waren die Engel, die unsere Essen in Restaurants bezahlten, wo wir uns die Fähigkeit aneigneten, aus einem Dollar so viel wie möglich herauszuholen.
    In dieser Zeit gab es auch ein paar sichere Häfen.
    Die öffentliche Bibliothek auf der 42nd Street wurde nach einer langen Nacht zu einem meiner Lieblingsplätze, zusammen mit Bobbys Futon — der Steinlöwe, der den Eingang bewachte, mit seinem Zwilling neben sich; die Wandverkleidung aus Mahagoni, aneinandergereihte Leselampen aus Kupfer und Zimmerdecken, in die komplizierte, üppige Blumenmuster geschnitzt waren. Nackte Figuren im viktorianischen Stil, die so echt wirkten, dass sie sich hätten bewegen können, blickten auf uns herab. Carlos und Sam nahmen einen Tisch in Beschlag, damit er ihr Zeichnen beibringen konnte; ich verschwand zwischen den Regalen.
    Ich konnte mich stundenlang durch die in Zellophan eingebundenen
Bücher arbeiten, genau wie durch Daddys Bücher in der University Avenue. »Mir geht’s gut«, hatte ich ihm gerade erst gestern Abend, in einer Telefonzelle nur ein paar Blocks von seinem Wohnheim entfernt, versichert, während die Kälte meinem Gesicht und meinen Fingern zusetzte. »Ich bin bei Freunden, und die Schule macht riesig Spaß.« Durch meine Beteuerungen hoffte ich, er würde bis zu unserem nächsten Gespräch nicht bei Brick anrufen. Ich lieh mir Bücher aus, die mich an Daddy erinnerten, verstaute sie zusammen mit meinem Tagebuch vorn in meiner Schultasche und las abwechselnd darin an jedem Ort, an dem wir uns niederließen: in Zügen, in Hausfluren, an ruhigen Plätzen in den Wohnungen von Freunden.
    Die Wohnungen von Freunden waren unsere sicheren Häfen, wenn die Reise begann sich weniger wie ein Abenteuer und mehr wie ein Marathon anzufühlen. Man kann nur so lange laufen, bis man sich ausruhen muss. Pausen machten wir dort, im Kreis unsers Pulks. Wir zogen durch die Gegend, schmiedeten Pläne, wurden hungrig, lachten, froren, und jenseits davon war eine Gruppe von Freunden und deren Freunden bereit, uns zu helfen: Bobby, Fief, Jamie, Diane, Myers und Josh. Paula geht um sieben, Jamies Mom ist um acht aus dem Haus. Es bürgerte sich ein, dass wir am Morgen immer wussten, wo wir tagsüber hingehen konnten. Entscheidend war nur, in wessen Wohnung wir in dieser Woche schon zu oft aufgekreuzt waren und wessen Eltern gerade beim Einkaufen gewesen waren, damit kein Elternteil irgendwie dahinterkam.
    Aber unter der Voraussetzung, Hilfe dringend nötig zu haben, verwandelten sich die Wohnungsbesuche genauso wie die Freundschaften selbst in etwas Stressiges. Wenn meine Besuche zu neunzig Prozent deshalb stattfanden, weil ich etwas brauchte, und zu zehn Prozent aus Geselligkeit, dann wurden dadurch sogar die wertvollsten Freundschaften auf die Probe gestellt. Ob Bobby tatsächlich Lust auf Gesellschaft hatte, wurde zu meiner geringsten Sorge auf meiner Liste, gleich hinter seinem umfassenden Verlust an Privatsphäre, Streit über zur Neige gegangene Vorräte, für die
er die Schuld zugeteilt bekam, und den Beweisen für unsere Übernachtungen, die Paula möglicherweise fand.
    »Kleeblatt, hör zu, daran kannst du nichts ändern. Du würdest doch das Gleiche für sie tun, oder?«, argumentierte Carlos. »Hey, zurzeit bleibt dir einfach nichts anderes übrig! Im Vergleich zu ihnen bist du in einer beschissenen Lage.«
    Aber Vergleiche zwischen den Leuten anzustellen, war tückisch; das kam mir als Erklärung wie eine Allzweckwaffe vor, die man in jede Richtung drehen konnte. Ja, verglichen mit Myers und Bobby, die in den Genuss eines warmen Bettes und von

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