Als der Tag begann
Lebensmitteln kamen, für die sie nur den Schrank aufmachen mussten, konnte man natürlich argumentieren, dass wir uns mit wenigen ihrer Reichtümer begnügten. Trotzdem, ging es uns wirklich so schlecht?
Wir waren ja nicht wie die Obdachlosen, die man beim Herumschieben von Einkaufswägen voller trauriger Dinge sah, Fotorahmen, Elektroteile und Säcke voll Kleidung; ganz offensichtlich gebrochene Menschen, bei denen man erraten konnte, nur durchs Hinsehen, was sie gebrochen und vernichtet hatte, um dort auf der Straße zu landen. Im Vergleich zu ihnen hatten wir Glück, unser ganzes Leben wurde nicht in Wägen herumgekarrt oder in Säcke gepackt; Säcke, die ständig aufplatzten und alles ausspuckten, um sie daran zu erinnern, woran sie sich so sehr klammerten und warum sie sich so sehr weigerten, es liegen zu lassen.
Wir waren noch jung. Und egal, wo wir schliefen, ich wusste — den Kopf zum monoton einlullenden Geräusch des Zuges der Linie D Richtung Norden gegen die Wand gelehnt oder mich mit geschlossenen Augen auf den harten Planken der Parkbänke unter den Sternen gebettet –, dass ich nur meine Familie und meine Vorstellung von zu Hause mit mir herumtragen musste. Ein einfach zu greifendes Bündel, leicht zu schultern durch die Vertrautheit; alles Dinge, die ich schon die ganze Zeit bei mir trug, lange bevor ich in Bedford Park gestrandet war oder den Klang von
Sams warmer, motziger Stimme gehört hatte. So gesehen hätte ich im Vergleich zu anderen Carlos gegenüber begründen können, dass ich es leicht hatte. Ich hatte mein ganzes Leben lang geübt, Dinge bei mir zu tragen. Andere hingegen traf es wie ein Schock. Egal, wie erschöpft wir waren oder aus welchem Blickwinkel er unsere Lage beurteilte, ich für meinen Teil machte einfach nur die Nacht durch und wehrte das Dunkel ab, bis die Sonne jeden Tag wieder aufging. Dann begann ich von vorn, gewappnet und gewillt, es zu schaffen.
Meinen sechzehnten Geburtstag feierte ich in Fiefs Wohnung. Der Pulk legte zusammen und kaufte mir eine Carvel-Eistorte. Sie trugen sie schon angeschmolzen ins Zimmer, Kerzenlicht fiel auf die blanke Matratze, auf der Carlos, Sam und ich geschlafen hatten, ganz hinten in der dunklen Wohnung. Ich kam nur langsam zu mir und verwechselte die speckige Matratze mit der meiner Eltern in der University Avenue, die mit den vielen Brandlöchern. Während alle sangen, war ich wieder dort, zurück in unserer alten Wohnung, und umkreiste mit den Fingern die hervorstehenden kreisrunden Matratzenfedern, redete mit Ma. Irgendwer schmierte mir Eiscreme ins Gesicht und holte mich so in die Gegenwart zurück. Als Carlos das Eis von meinem Gesicht abküsste, wurde geklatscht, aber es fühlte sich alles so falsch an ohne Ma, Daddy und Lisa. Sollte ich nicht auch mit ihnen feiern? Im Badezimmer drehte ich Fiefs Dusche auf, sackte auf dem schmutzigen Boden zusammen und starrte wie betäubt die Wand an.
In diesem Herbst wachten Sam und ich drei- oder viermal die Woche ohne Carlos auf. Wenn wir die Wohnung eines Freundes belagerten, ließ er uns gewöhnlich ausrichten, wo er hinging und wann er wiederkam. Wenn wir aber auf dem obersten Treppenabsatz eines Treppenhauses schliefen, war ein Zettel mit einer Nachricht alles, worauf wir hoffen durften. Sam und ich verbrachten gut und gern den ganzen Morgen damit, seine Schrift zu entziffern,
während wir im Park saßen oder sie in Bobbys Dusche stand und ich mit dem Zettel fest in der Hand auf dem Badezimmerboden saß. Es wurde zur Gewohnheit.
Hallo Kleeblatt,
musste heute schnell los, Grandmas Geburtstag, ich will ihr was
Hübsches schenken, indisches Öl und zwei Lampenschirme oder so.
Komm aufs Dach bei Brick oder Bobby. Wenn Du’s nicht schaffst,
werde ich Dich finden, wo immer Du auch bist.
Eine Liebe, für immer,
Dein Ehemann
Carlos Marcano
»Glaubst du wirklich, es geht um seine Großmutter?«
»Keine Ahnung, Liz, woher willst du das bei ihm jemals wissen? «, sagte Sam und lehnte sich aus der Dusche, um ihre Beine zu rasieren. Ihre großen Brüste fielen nach vorn, als sie mit Paulas Einwegrasierer sorgfältige Bahnen zog. Ihre Arme und Beine waren dünn wie Stäbchen, und ihr Kopf war bedeckt mit einem Flaum, der zu kurz war, um nass auszusehen.
»Sam, du wirst immer dünner«, sagte ich.
»Ich esse gern, aber ich komm irgendwie nicht so oft dazu. Du bist auch kein Abbild guter Ernährung«, entgegnete sie kichernd.
Ich ließ von Carlos’ Zettel ab und stand auf, um mich im Spiegel
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