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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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dabei. Denkt nicht nach, unternehmt einfach was.«

    Carlos ließ Worten Taten folgen. Ich war schon oft in meinem Leben auf den Straßen der Bronx und in Manhattan unterwegs gewesen, hatte dieselben Viertel aufgesucht, das Village, die 86th Street, Fordham Road und Bedford Park. Aber mit Carlos in diese Orte zurückzukehren war so, als wäre ich noch nie dort gewesen.
    Ich stellte fest, dass die Regeln und Normen der Gesellschaft faktisch bedeutungslos waren. Carlos zeigte uns, dass man durch Überredungskünste — wie mit Engelszungen – in ein Restaurant hinein- und mit einer warmen Mahlzeit und einem alkoholfreien Getränk wieder hinausmarschieren konnte, ohne Bezahlung. Völlig Fremde waren bereit, ihr Portemonnaie zu öffnen und auszuhelfen; sie wussten es nur noch nicht.
    »Seht ihr, ich hab eine Menge Freunde, oder? Alles bestens. Das sind auch nur Menschen, wie ihr und ich. Hey, wenn ihr irgendwo arbeiten würdet und jemand hätte Hunger, sagt bloß, ihr würdet dem nicht helfen? Man muss sich nur ins Zeug legen.«
    Egal, wo wir aufkreuzten, Carlos schmiss sich an die Leute ran. Und wo immer wir aufkreuzten, kannte er jemanden. Mit ihm durch die Gegend zu laufen, hieß, alle paar Minuten anzuhalten, bei dem Hotdog-Verkäufer am Broadway, der ihn umarmte und uns was zu essen gab, oder bei dem Jamaikaner, der am Broadway Flyer verteilte, oder bei dem Tätowierungskünstler im Tommy’s, der ihm »Tone«, Carlos’ Künstlername als DJ, umsonst in die Schulter ritzte. Aber als wir auch bei den Mädchen stehen blieben, begann ich mich zu fragen, ob es eine taktvolle Obergrenze beim Sich-ins-Zeug-Legen gab.
    Carlos und ich waren ganz offiziell an jenem Tag in Bricks Küche ein Paar geworden, obwohl er das Ganze noch mal formell vor der Garibaldi-Statue im Washington Square Park bekräftigte. Wir hatten in einem Lokal auf der West Fourth Street gesessen, als wir draußen plötzlich Donnergrollen und das Prasseln heftiger Regengüsse hörten. Er nahm mich an die Hand und lief lachend mit mir zu Garibaldi, wo er dann einen riesigen Plastikmüllsack über uns ausbreitete. Bei wasserfallartigem Regen rief er mir dann in
diesem menschenleeren Park zu: »Geh mit mir!« Mit Wasserbächen im Gesicht küssten wir uns dort, unter dem Plastiksack, während er mich mit seinen kräftigen Armen festhielt.
    Aber wenn wir zufällig die Mädchen trafen, die ihm dann – ohne Einschränkungen in Alter, Figur und Herkunft, mit ihren klauenartigen Fingernägeln und riesigen Kreolen – ihr Hallo entgegensäuselten, obwohl manche ihn auch mit einem anderen Namen ansprachen – Jose oder Diego –, ließ er meine Hand los. Es gab einen direkten Zusammenhang zwischen ihrer Schönheit und der Tatsache, ob er Sam und mich ihnen vorstellte oder nicht. Sam und ich lernten, während ihrer Begrüßung abseits stehen zu bleiben. Hin und wieder musterte mich eine von ihnen kurz und verdrehte dann die Augen. Ein paar besaßen die Frechheit, mich anzulächeln und mir zuzuwinken. Manchmal schrieb sich Carlos ihre Telefonnummern auf.
    »Wer war das?« Ich bemühte mich ernsthaft, nicht vorwurfsvoll zu klingen. Es war immer eine Cousine, eine Nachbarin oder die Freundin eines Freundes.
    »Die Freundin meines Freundes, ist sie nicht süß?«, sagte er zu mir. »Ich geh da vielleicht zum Abendessen vorbei, sie hat mir gerade die Adresse gegeben.« Seine Erklärung war immer wie eine Betonwand, durch die ich nicht durchkam. Je mehr ich nachbohrte, desto mehr lenkte ich die Aufmerksamkeit auf mich. Es war besser, die Dinge laufen zu lassen; er mochte mich, da war ich mir sicher. Außerdem gab es genug andere Sachen, auf die wir uns konzentrieren mussten, zum Beispiel darauf, wie Sam und ich lernen würden, uns in unserer neu gefundenen »Freiheit« zurechtzufinden.
    Unsere Taktik müsse unbedingt verfeinert werden, meinte Carlos. Wir bettelten an einer Straßenecke in der Nähe des Washington Square Parks um Kleingeld, genau vor den Wohnheimen der Uni-Studenten. Carlos wäre uns ja aus dem Buchladen zu Hilfe geeilt, aber er versicherte uns, dass wir als weibliche Wesen ohne ihn bessere Chancen hätten. Er sei aber in der Nähe und würde uns beobachten.

    Menschen strömten an uns vorbei, wirklicher als wir selbst, wie eine Ebbe- und Flutbewegung von Bürgern, deren Gesichter in meinen Träumen auftauchten wie Farbflecken. Ich übernahm das Reden. »Bring sie einfach dazu, dir zu geben, was sie können, und dann vergisst du sie«, paukte ich Sam ein,

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