Als der Tag begann
reckte, die Fernbedienung in der Hand. Seine Haare waren ihm bis über die Ohren gewachsen und glänzten im Mondlicht.
»Hey, was läuft?«, fragte er ziemlich distanziert und blickte auf uns drei herab. Was sollten wir sagen? Wir sind müde? Es nervt? Können wir heute Nacht bei dir auf dem Fußboden schlafen?
»Heepy Halawana«, war alles, was als Antwort kam, und zwar von Sam in einem so niedlichen kleinen Ausruf, der Bobby zum Lachen brachte. Carlos drehte uns den Rücken zu, bewarf weiter Autos mit harten Bonbons und lachte völlig irre dazu. Neben Bobby tauchte plötzlich am Fenster der Kopf eines Mädchens auf. Es war Diane, eins der wenigen Girls in unserem Pulk.
»Hallihallo, Leute«, sagte sie so aufgekratzt, dass ich mich wunderte. Sie lehnte sich zur Seite und gab Bobby einen sanften Kuss auf die Wange. Die beiden waren ein schönes Paar, so gesund, ausgeruht und fröhlich. Ich dachte daran, wie sie wahrscheinlich friedlich in seinen Armen einschlief, bequem auf seinen weichen Kissen. Carlos tauchte an meiner Seite auf. Ich bemerkte seinen Fünf-Uhr-morgens-Bartschatten und seine hellroten Augen mangels Schlaf. »Komm, wir gehen, Kleeblatt«, sagte er, und ich folgte ihm bis zum Concourse.
Unsere einzige andere Anlaufstelle war unsere Freundin Jamie, an deren Erdgeschossfenster wir einen Zettel klebten und zermantschte M&Ms benutzten, damit er hielt. Darauf abgebildet war ein Smiley, dazu folgender Text:
Waren kurz hier. Abhängen. Heepy Halawana.
31. Oktober 1996
Trotz unseres Herumlärmens wachte sie nicht auf. Trotz unserer Rufe wussten die anderen nie, dass wir überhaupt vorbeigekommen waren.
Bis zum Sonnenaufgang hatten wir eine Decke gestohlen, die jemand vors Fenster gehängt hatte, um sie zu trocknen. Wir campierten unterwegs damit, gegen die warmen Wände der Token-Schalter in der Station Bedford Park der Linie D gelehnt. Die Rushhour brachte Leute heran, die ihre Metrokarten durchzogen,
wobei die Schranken pausenlos piepten und uns aus dem bisschen Bequemlichkeit holten, was wir uns geschaffen hatten. Sam und ich kuschelten uns wärmend aneinander, die Decke, die immer noch ein bisschen feucht war und beruhigend nach Weichspüler roch, fest um uns geschlungen. Carlos lief ziellos im Kreis herum und gab Kommentare von sich.
»Das Mädchen in dem grünen Mantel kann Karate«, verkündete er durch sein provisorisches Megafon aus einem Poster, das er von der Wand gerissen und zu einem Trichter gerollt hatte. Sie warf ihm einen bösen Blick zu. Meistens jedoch wurde er ignoriert. »Der Mann am Schalter fährt auf Discotanz ab«, machte er weiter und weiter und verschwand in der Ferne in einem metallischen Stimmengewirr.
In meinem Traum war Ma dabei, zu verhungern. Krankenschwestern und Ärzte standen im Halbkreis um ihr Krankenhausbett herum, konnten ihr aber nicht mehr helfen. In der Nähe standen Tabletts mit dampfendem Essen in Tupperschalen. Sie roch das Essen, bat leise weinend darum, aber sie würde nur essen, wenn ich sie fütterte. Während sie auf mich wartete, verließ alle Flüssigkeit ihren Körper, sodass sie wie eine alte Weintraube verschrumpelte und ihre Augen in die Höhlen fielen. Ich lief die Gänge des Krankenhauses entlang, verzweifelt, ohne Orientierung, zu müde, um die Treppen hinaufzusteigen. Als ich endlich in Mas Zimmer ankam, völlig erschöpft von dem zurückgelegten Fußmarsch, lagen nur rote und goldene Blätter in ihrem Bett.
Als ich aufwachte, stupste Sam mich an.
Carlos war verschwunden.
Die ersten beiden Nächte nach Carlos’ jüngstem Verschwinden nisteten Sam und ich uns bei Bobby ein. Wir versuchten, auf dem Futon in seinem kleinen Zimmer zu bleiben und uns so unauffällig wie möglich zu verhalten. Wir wuschen alles Geschirr ab, das wir benutzten, und falteten alle Decken wieder zusammen, auf denen wir schliefen, in der Hoffnung, unsichtbar zu werden. Die
Benutzung des Badezimmers ließ sich nicht vermeiden, also versuchten wir, meistens blitzschnell zusammen zu gehen. Und zu guter Letzt war der Verbrauch an Lebensmitteln nur eine Frage des Willens und wurde so lange hintangestellt, bis es nicht mehr anders ging. Bobby war froh, uns zu sehen, und mir fiel auf, dass er wenig bis gar keine Notiz von unseren Bemühungen nahm, unsere Anwesenheit zu verheimlichen. Gut, dachte ich.
Im Schein des Fernsehers blätterte ich durch mein Tagebuch und studierte Carlos’ Briefe.
Er unterschrieb sie immer mit Dein Ehemann . In dieser zweiten Nacht, als ich
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