Als der Tag begann
seinem Kopf. Ich trat einen Schritt zurück und musste trotz meiner Stimmung kichern. Wie auch nicht? Er sah so albern dabei aus.
»Hey, wir kriegen schon noch eine Wohnung.« Er schlug mir mit dem Kissen auf die Schulter, dann zog er Sam blitzschnell an einem Fußgelenk quer übers Bett und schlug auch auf sie ein. »Blöde Gören!«, rief er mit der Stimme eines schmollenden Kindes und haute halbherzig mit dem Kissen mal in meine, mal in Sams Richtung. »Ihr glaubt mir also nicht.« Sam klammerte sich kreischend an der Matratze fest. Ich gab klein bei, schnappte mir auch ein Kissen und schlug es ihm mehrmals mit aller Kraft auf seinen Rücken, aber ich spürte dabei sowohl die ganze Nutzlosigkeit meiner Hiebe angesichts seines gestählten Körpers, der wie ein wandelnder Felsklotz war, als auch meine Wut, die mit jedem Schlag stärker wurde. Wir rauften miteinander, bis wir ein einziger ineinander verkeilter schwitzender Haufen an Gliedmaßen waren, der lachend auf den muffigen Teppich plumpste. Carlos stand als Erster wieder auf. Sam und ich sahen zu, wie er über sein Hemd strich und zur Kommode ging, wo er die größte Schublade herauszog.
»Hier«, sagte er, »seht selbst.«
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und warf mir eine dicke Zeitung zu, die New York Post , aufgeschlagen beim Annoncenteil.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Domino’s Pizza, Hackfleisch und extra viel Pfeffersalami«, sagte er. »Mann, das sind die Kleinanzeigen, Kleeblatt. Was denn sonst? Ich war dabei, Wohnungen für unseren Neustart abzuchecken. «
Ich sah mir die Zeitung genauer an und entdeckte, dass auf der
Immobilienseite ein paar Telefonnummern mit schwarzem Stift notiert waren. Es war Carlos’ Handschrift, und eine davon war umkringelt.
Ich wurde von einer Welle aus Reue überrollt, ihm nicht geglaubt zu haben. Ich sah mich mit seinen Augen und spürte, wie egoistisch ich wirken musste. Es war das Geld seines toten Vaters, und ich bereitete ihm Kummer, weil ich so hilfsbedürftig war, dass ich ohne ihn nicht klarkam.
»Carlos …«, setzte ich an und erhob mich vom Boden. Aber er hielt eine Hand hoch, um mich zu unterbrechen.
»Hört zu«, sagte er und sah uns grinsend an, »heute Nacht ist die Nacht der Nächte. Heute lassen wir die Puppen tanzen. Vergesst das hier. Heute Nacht zieht ihr eure besten T-Shirts und Jeans an, ich führe euch aus.«
Wir nahmen ein Taxi nach Downtown zu einem uns unbekannten Ort, von dem Carlos behauptete, wir müssten ihn mit eigenen Augen sehen, um ihm zu glauben. Ich hatte noch nie erlebt, dass jemand für eine Taxifahrt dreißig Dollar bezahlte. Carlos saß vorn, witzelte auf Spanisch mit dem Taxifahrer herum und wechselte im Radio zwischen Rock- und Hip-Hop-Sendern hin und her. Als er sich auf einen Sender einließ, dröhnte Foxy Browns Gotta Get You Home aus den Boxen. Carlos scratchte LPs auf einem unsichtbaren DJ-Plattenspieler. Sam und ich hüpften bei offenem Fenster und mit wehenden Haaren auf der Rückbank zum donnernden Bass der Musik auf und ab. Wir lachten, ausgelassen vor Freude. Draußen verdunkelte sich der Himmel zu einem tiefen Blaulila. Ich lehnte mich ein bisschen aus dem Fenster und atmete tief den kalten, spätherbstlichen Geruch ein, diese frische Feuchtigkeit, die vor einem Sturm in der Luft liegt. Familien in ihren Volvos, die Babys sicher in ihren Kindersitzen angeschnallt, schossen an uns vorbei, Autos voll mit ganz normalen Teenagern. Ihr Leben sah so durchschnittlich aus, und ihr Anblick betonte noch den totalen Mangel an Strukturiertheit in unserem Dasein.
Wir waren Außenseiter, ein wüster Haufen junger Leute, die sich gemeinsam ein alternatives Lebensmodell zusammenbastelten. Unser Abenteuer machte mir Angst, war aber gleichzeitig auch wahnsinnig aufregend, und der Unterschied lag allein darin begründet, was Carlos tatsächlich vorhatte und ob er sein Versprechen halten würde.
Der angesteuerte mysteriöse Ort war ein kleines, heruntergekommenes Dim-Sum-Restaurant auf der Mott Street in Chinatown. Carlos verlangte von der Kellnerin, mit der er per Du war, dass sie eine bestimmte Sitzecke für uns freimachte, ganz vorn. Auf seinen ausdrücklichen Befehl hin verzichtete sie darauf, uns eine Speisekarte zu bringen; Carlos bestellte für uns drei – er kannte sämtliche Gerichte auswendig – und zwinkerte uns zu, statt sich zu rechtfertigen. Wir lachten, statt nachzufragen.
Während wir dort saßen, war ich wieder vollkommen fasziniert von ihm.
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