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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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beschloss ich, es auf sich beruhen zu lassen. Ich ignorierte meine Wut und schwamm mit dem Strom. Alles andere brachte nichts. Was würde bei einer Konfrontation herauskommen? Wenn ich mich mit Carlos stritt, war es ja nicht so, dass ich nach Hause gehen konnte, um das Ganze noch mal zu überdenken. Hier war mein Zuhause, sie waren mein Zuhause. Wenn ich einfach so tat, als wäre alles in Ordnung, würde es das vielleicht auch sein.
    »Gehen wir was essen«, sagte ich und schüttelte alles ab.
    Carlos zog mich aus dem Bett. Ich schlüpfte nacheinander in drei Pullis, zog mir eine Strickmütze über den Kopf, lieh mir Sams Handschuhe aus und folgte ihnen nach draußen. Unten entdeckten wir ein kleines enges Café, das zum Motel gehörte. Es sah aus, als hätte seit Jahren niemand mehr den Boden gewischt oder die Fenster geputzt, und ganz sicher hatte niemand in der Zeit die lindgrünen Wände gestrichen, aber der Bratrost glänzte wie neu, und in der Luft hing der leckere Geruch nach Schinken und Eiern.
    »Was immer ihr wollt«, sagte Carlos, »wie üblich.«
    Ich bestellte Toast und Bagels mit Butter, Sam auch.
    »Viel Butter!«, schrie sie dem Mann am Rost zu, einem alten Herrn mit dünnem Bart. »Ich will einen Herzinfarkt, her damit!«, fuhr sie dann mit tiefer Stimme fort und haute auf den Tresen. Einige der älteren Leute, die an den Tischen saßen, hielten im Reden inne, um sie von oben bis unten zu mustern. Wir nahmen unsere Bestellungen entgegen und gingen wieder hinaus. Carlos ließ einen Fünfer auf dem Tresen liegen und erledigte draußen ein Telefonat. Mit seinen hellbraunen Timberlands stand er mitten im frischen Schnee. Ich sah mich um, die Gegend kam mir vage bekannt vor, aber ich konnte sie nicht einordnen. Möglicherweise war ich schon mal in dem Park oder dem Café gewesen. Aber wann? Wieso? Als wir mit unserem Frühstück zurück zur Treppe gingen, merkte ich, dass mein Eindruck richtig gewesen war.
    »Runter!«, herrschte Sam mich an. »Oh, mein Gott!« Ich blickte mich stattdessen um. Und dann sah ich sie. Grandma, in Mas altem,
knöchellangem Daunenmantel, die geradewegs auf die Stufen zu dem kleinen Café zusteuerte. Sam kannte Grandma von ihren seltenen Besuchen in Bricks Wohnung. Sie zerrte mich mit einem Ruck um die Ecke des Motelgebäudes.
    »Sam, du meine Güte«, sagte ich und stolperte hinter ihr her. »Ihr Altenheim ist hier gleich um die Ecke! Sie wird die Polizei rufen und mich melden, das weiß ich.« Carlos kam zu uns gerannt. Er stülpte sich seine Kapuze weit nach vorn über den Kopf, zog den unteren Kragenrand mit geballten Fäusten hoch und linste so heraus, dass man nur seine Augen sehen konnte.
    »Vor wem verstecken wir uns?«, fragte er mit einer kindischmädchenhaften Stimme. »Ich hab ja so viel Angst.«
    »Vor der Mutter meiner Mutter. Sie wird mich als Ausreißerin der Polizei melden. Sie werden mich wieder ins Heim bringen. Also sei einfach ruhig.«
    Wir spähten um die Ecke und beobachteten Grandma auf ihrem Marsch durch den Schnee. Ihr Aufkreuzen war wie eine Szene aus einem Traum oder einem schlechten Film. Unbedacht musste ich laut lachen, weil mir die Situation so lächerlich vorkam. Sam legte mir eine Hand auf die Schulter und blinzelte in Grandmas Richtung.
    »Was ist los mit ihr?«, fragte sie. »Sie geht irgendwie komisch.«
    Erst da fiel mir auf, dass Grandma nicht richtig vorankam, sondern die Straße Zentimeter für Zentimeter entlangschlurfte. Mehr als ein Mal blieb sie stehen, rang nach Luft und griff sich an die Brust. Als sie näher kam, sah ich, dass ihre Haut blass wirkte, fast weiß. Und als sie es endlich bis zu dem Café geschafft hatte, brauchte sie ein paar Minuten, um die wenigen Stufen zu bewältigen, während wir schweigend zusahen. Endlich angekommen, ließ sie sich auf einen der harten Plastikstühle im Café fallen. Sie war allein am Tisch. Unverzüglich brachte ihr der Herr vom Grill eine Tasse Tee, und sie reichte ihm eine zusammengefaltete Geldnote, die sie aus ihrer Tasche zog. Es wirkte alles sehr eingespielt.
    Beim Zusehen wurde ich unglaublich traurig. Es war ein flüchtiger
Blick in ihr einsames Leben, das Leben, über das sie sich immer beschwert hatte, wenn ich, Ma oder Lisa mit ihr am Telefon festhingen. Ihre Worte hallten in meinem Kopf wider. »Ich bin einsam in diesem Heim. Meine Enkelinnen besuchen mich nie. Selbst mein Rosenkranz heitert mich nicht auf«, sagte sie immer. Jetzt breitete sich ihre Einsamkeit vor mir aus wie ein

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