Als der Tag begann
Hotelschildes. Ich war meilenweit weg von zu Hause.
Während der nächsten zwei Wochen im Motel hatte Carlos drei nebeneinander auf dem gleichen Flur liegende Zimmer angemietet, zusätzlich zu dem, in dem wir wohnten. Er begann, sich anders zu verhalten, autoritärer. Das Geld veränderte ihn, und er veränderte mit dem Geld unser ganzes Umfeld. Er pflegte engen Kontakt mit Bobby, Diane, Jamie, Fief und einigen anderen entfernten Mitgliedern des Pulks, die alle ins Motel kamen und Spaß daran fanden, von daheim auszubüxen und an einem bizarren Ort zu schlafen. Carlos stellte ihnen die Zimmer zur Verfügung und wurde dadurch zu ihrem Anführer. Jede Nacht bestellte er drei Taxen, um den ganzen Haufen gesammelt zum Essen ins Village
karren zu lassen, zum Billardspielen auf der 86th Street oder ins Kino am Times Square. Er gab seiner Lieblingskellnerin im Diner auf der West Forth Street fünfzig Dollar Trinkgeld, aber erst nachdem sie einen Knicks gemacht und ihn mit schief gelegtem Kopf angelächelt hatte. Derartige Aktionen und letztlich alle Späßchen von Carlos ließen jeden seiner Freunde – meist waren es zwölf an drei großen Tischen – in hysterisches Gelächter ausbrechen.
Carlos hielt sich, was seine Privatangelegenheiten betraf, ziemlich bedeckt. Er und Fief oder er und Jamie oder wer sonst aus dem Freundeskreis gerade verfügbar war, machten regelmäßig mysteriöse Ausflüge mit dem Taxi zu geheim gehaltenen Zielen. Mir sagte man, sie unternähmen die Fahrten aus persönlichen Gründen, und ich wurde gebeten, im Motel zu bleiben. Seine Handygespräche, die er allesamt auf dem Balkon vor unserem Zimmer führte, waren besonders vertraulich — es war tabu, danach zu fragen, selbst wenn er mit meinen Freunden telefonierte. Ich wusste nie über Einzelheiten der Gespräche oder über die Ziele der geheimen Ausflüge Bescheid, was aber dazu führte, dass ich über die Art, wie Jamie ihren Kopf zurückwarf und lachte, sobald Carlos etwas sagte, nachzudenken begann; darüber, wie sie, genau wie die anderen Girls, alles Freundinnen oder Freundinnen von Freunden, die unseren Zirkel betraten und wieder verließen, keine Hemmungen hatte, Carlos ziemlich nahe zu kommen, seinen Arm zu berühren oder ihn in die Backe zu zwicken. »Deine Sommersprossen sind einfach zu süß«, sagte Diane einmal, als sie auf seinem Schoß saß. Es kursierten Insiderwitze, die an mir vorbeigingen und die ich nicht verstand. Sam verplapperte sich ein paarmal und gab zensierte Kommentare über vertrauliche Gespräche zwischen Carlos und ihr zum Besten. Da nahm ich ihr zum ersten Mal etwas übel, und zu diesem Zeitpunkt hörten wir damit auf, uns einander anzuvertrauen. Der Keil zwischen uns fühlte sich damals endgültig an.
Dennoch konnte ich nichts davon laut aussprechen, tatsächlich
wagte ich gar nicht, das Thema überhaupt anzuschneiden, aber mir gingen zwei grauenhafte Verdächtigungen durch den Kopf. Die eine betraf die geheimen Ausflüge von Carlos mit meinen Freunden und den Verdacht, dass er dabei mit Drogen dealte. Es kam mir in den Sinn, als ich erkannte, wie sehr er langsam, aber sicher den Drogenhändlern in meinem alten Viertel ähnlich sah: großräumige Baggy-Jeans, um Dinge zu verstecken, einen Beeper und ein Handy, damit er für Lieferanten und Kunden erreichbar war; seine Ketten, die er manchmal sogar unter der Dusche trug und die seine Gangzugehörigkeit dokumentierten.
Die andere Angst war die, dass er mich mit jemandem betrog, vielleicht sogar mit Sam. Für diese Verdächtigung hatte ich keinerlei Beweise, es war mehr ein Gefühl, das mir wie ein Stein im Magen lag.
Ich war eine Schwarzseherin, die, die keinen Spaß verstand. Ich beobachtete Carlos’ Verhalten, behielt seine Ausgaben im Blick und erinnerte ihn an die Hunderte von Dollar, die er jeden Tag aus dem Fenster warf. Ich sprach die Wohnung an, sagte ihm, Essen sei billiger, wenn wir die Ausgaben aufteilten, und wies ihn, zum großen Leidwesen aller, darauf hin, dass wir keine Taxen brauchten – eine Fahrkarte kostete einen Dollar fünfundzwanzig Cent. Er hütete seine Bankauszüge wie Gold aus der Münzanstalt und verkündete mir, wir würden bald mit dem Sparen anfangen. In der Zwischenzeit sollte ich mich mal entspannen, auf großem Fuß leben – hatten wir es uns denn nicht verdient, mal die Puppen tanzen zu lassen, nach all dem, was wir durchgemacht hatten? Warum nahm ich auf einmal alles so ernst? Seine flüchtigen Küsse fühlten sich rau an
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