Als der Tag begann
Badewanne
hob. Ich dachte an Mas Hustenanfälle, während ich ihren Körper wusch und wir beide so taten, als bemerkten wir ihre Nacktheit und ihre Schamgefühle nicht. Ich erinnerte mich an ihren gerade mal vierzig Kilo schweren Körper, wie ihn, in frische Laken gehüllt, ihre Trunkenheit in den Schlaf lullte. Als ich den Frisch-aus-der-Schachtel-Geruch der Maske noch einmal tief einatmete, entschied ich, dass sie sinnlos war. Ich stieß Mas Zimmertür auf und nahm das orangefarbene Ding aus meinem Gesicht.
»Hi, Ma.«
Durch den braungrünen Netzvorhang, der Mas Bett umgab, drang keine Antwort hervor. Ich musste all meinen Mut zusammennehmen, um den Vorhang zur Seite zu schieben, und brauchte noch mal so viel mehr davon, um den Schock zu verbergen, den ich beim Anblick dessen, was dahinter lag, bekam.
Ma beanspruchte nur einen Bruchteil des Bettes. Ihre Haut war vergilbt und straff über das Gesicht gezogen, die Wangen dramatisch eingefallen, sorgfältig modelliert von ihrer Krankheit. Die Decke war zur Seite geschoben, sodass ihr ausgemergelter Körper enthüllt wurde, zusammengerollt wie das Skelett eines Kindes, wobei die Plastikmatratze unter ihr kaum eingedellt war. Auf ihren Gliedmaßen befand sich von oben bis unten entzündeter roter Grind auf angeschwollenen Wunden. Ihre Augen waren weit aufgerissen, aber auf nichts fixiert, und ihr Mund bewegte sich langsam, fast so, als buchstabierte sie, und spuckte winzige Töne aus. Darüber hinaus waren die an ihren Körper angeschlossenen Maschinen die einzigen Geräuschquellen in dem kleinen, stickigen Zimmer.
Ich zitterte. Unwillkürlich öffnete ich den Mund, bevor ich mir sicher war, was da herauskommen würde.
»Ma? Ich bin’s, Liz … Ma?«
Als Reaktion irrte ihr Blick durchs Zimmer. Für einen Augenblick landete er auf mir, und ich dachte, ich hätte ihre Aufmerksamkeit ergattert, aber dann schweifte er weiter umher, und ihr Mund behielt dabei dieselben abgehackten, wortlosen Bewegungen
bei. Auf dem schmalen Tisch, der an ihr Bett geschoben war, stand noch das Krankenhausabendessen zur Feier von Thanksgiving. In blaugrünen Tupperschüsseln lag die unberührte Mahlzeit aus Truthahnfleisch in erstarrter Bratensoße, die sich bereits den Weg durch den Kartoffelbrei und mitten in die Preiselbeeren hineingebahnt hatte. Neben ihrem Teller befand sich auf dem Tablett eine gezeichnete Version eines aus Karton ausgestanzten grinsenden Truthahns, der mit roten und goldenen Federn geschmückt war. Darüber stand: Der Moment, um dankbar zu sein.
»Ma … hör mal.« Ich setzte mich hin. »Es tut mir leid, dass ich nicht früher vorbeigekommen bin, Ma …«
Ich konnte nicht mehr sprechen; meine Kehle fühlte sich zugedrückt an, zu eng, um noch zu atmen. Ich drohte an den Tränen zu ersticken, die zu weinen ich mir nicht erlaubte. Dann atmete ich zweimal tief durch und griff nach ihrer Hand, die nicht viel wärmer war als die Metallpfosten des Krankenhausbetts. Die Berührung löste eine Gänsehaut auf meinem Arm aus.
»Es ist, als wäre sie schon tot«, murmelte ich vor mich hin. Dann sagte ich an sie gerichtet: »Noch nicht mal jetzt bist du richtig da.«
Die Tür ging mit einem Klicken auf, was einen Luftzug verursachte, der Mas Vorhang in der Brise hin- und herbewegte. Lisa kam herein, auf Schuhen mit Absätzen und in einer Cabanjacke, die langen dunklen Haare zu einem ordentlichen Knoten gebunden. Sie könnte als Sozialarbeiterin angestellt sein, als Anwältin arbeiten oder in jedem anderen Beruf für Erwachsene. Ich fühlte mich schäbig mit meinen mehreren Lagen an Pullovern, den daumengroßen Löchern an den Ärmeln und meinen langen braunen Haaren, ausgefranst und strähnig, die unter meiner gestrickten Mütze hervorschauten. Lisa klackerte ein paar Schritte vorwärts und sah von Ma zu mir.
»Hey«, war alles, was wir beide zur Begrüßung hervorbrachten. Sie vermied es, mich direkt anzusehen, und zog einen Stuhl heran, um nahe bei Ma zu sitzen. Mein Herz hämmerte. Für einen Moment sah ich mich mit ihren Augen: Ich war eine Schulabbrecherin,
die ihre kranke Mutter zurückgelassen hatte, um mit ihrem Freund aus der Gosse an einem unbekannten Ort zu leben.
»Wie lange bist du schon da?«, fragte sie.
»Erst seit Kurzem.«
Einen Moment lang saßen wir peinlich berührt und stumm nebeneinander, dann beugte sich Lisa nach vorn über Mas Krankenbett und begann zu weinen.
»Ma? Hi, Ma. Willst du dich nicht aufrichten? Wir sind hier. Lizzy ist hier.
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