Als der Tag begann
Die ganze Nacht war wunderbar surreal – die Art, wie er einen Laden betreten und alles verändern konnte, wie er die Lichter in Chinatown heller strahlen ließ, wie sie sich auf dem nassen Asphalt draußen spiegelten. Der übermütige Carlos, der in die Küche ging und mit der Kellnerin wieder herauskam, um uns mit ihr zusammen das Essen zu servieren. Wie er für mich aus einer Serviette eine wunderschöne Papierrose bastelte. Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden, von seiner Ausstrahlung, seinem schönen Gesicht. Und gelegentlich tauschten wir einen Blick aus, der so intim war, dass ich einfach wegsehen musste.
Sam grinste breiter, als ich sie je hatte grinsen sehen – sie sah rundum glücklich aus. Ich war auch glücklich. Die ganze Nacht hatte etwas Traumhaftes, und ich sagte mir, dass sich das Leben immer so anfühlen müsste, erfüllt von schlichten Glücksmomenten. Und vielleicht ging das ja, mit Carlos zusammen.
Später, zurück im Motel, redete Carlos auf den blockierten Getränkeautomaten ein, damit er ihm sein Geld zurückgab. Das reflektierende Licht des Automaten verwandelte die Farbe seiner
Sommersprossen in ein Goldbraun und erleuchtete seine Augen. Seine Stimme schien sich dem Brummen der Maschine anzupassen. In diesem Augenblick beschloss ich, mit ihm zu schlafen; ich fand endlich den Mut dazu. Er hatte das schon seit fast drei Monaten zum Thema gemacht, die gesamte Zeit über, die wir nun schon zusammen waren, und jetzt wusste ich, dass ich es durchziehen konnte. Ich sagte mir, es würde ihm zeigen, wie viel er mir bedeutete, und unsere Beziehung, die in letzter Zeit auf wackeligen Füßen zu stehen schien, festigen. Die Getränkedosen plumpsten in den Ausgabeschlitz, nachdem Carlos den Automaten sanft geschüttelt hatte. Selbst das gelang ihm.
Nun lagen die Dosen in einem Eimer mit schmelzendem Eis neben dem Bett. Sam war verschwunden, um Oscar einen Besuch abzustatten. Wir wären also stundenlang, die ganze Nacht womöglich, allein in diesem Zimmer. Ich war davon überzeugt, dass er meine Entscheidung wahrnahm, weil ich zu laut lachte, beim Sprechen mit Händen wie zwei flatterige Vögel herumfuchtelte. Ich schaffte es nicht, den Anstoß dazu zu geben – aber das musste ich auch nicht, ich musste mich auch nicht mal bewegen. Es tat nicht weh, da waren nur das Gewicht seines schweren Körpers, der starke Geruch nach Latex und sein heißer Atem. Zu meiner Überraschung war mein erster Gedanke, dass das Zusammensein mit ihm bedeutungsloser war als erwartet, mehr Zweck als Freude.
Es verwirrte mich, wie unbeteiligt ich mich fühlte, aufgeteilt in den physischen Teil meines Selbst, den ich mit ihm teilte, und meinen Verstand, der irgendwie abgelenkt war. Aber er bemerkte gar nichts davon; er bewegte sich auf mir auf und ab, auf und ab. Einen Moment lang nahm ich ihm das übel. In einem Versuch, dieses schlechte Gefühl umzuwandeln, entschloss ich mich, ihm in die Augen zu sehen, aber er hielt sie geschlossen. Da kapierte ich, dass Sex nicht zwangsläufig etwas war, was man miteinander teilte. Sex war etwas, was man mit jemand anderem machte, nichtsdestotrotz kann man es auch getrennt voneinander tun. Es
brachte einen nicht unbedingt näher zusammen. Eigentlich kann es sogar noch die Teile an dir betonen, die sich sowieso schon abgespalten fühlen. Sex kann dir deine eigene Isolation vor Augen führen. Sam hatte mir erzählt, dass daraus Liebe wird, aber ich fühlte mich damals überhaupt nicht geliebt von Carlos, noch konnte ich in diesem Augenblick für ihn Liebe empfinden.
Als er fertig war, rollte er von mir herunter und machte eine Dose Pepsi auf. Ich bat ihn, mir die andere zu geben, und ich spürte, wie sich das eisige Brennen in meiner Kehle ausbreitete, während ich einen willkürlich gewählten Punkt im Zimmer fixierte — ich vermied es, ihn oder uns ins Zentrum meiner Aufmerksamkeit zu rücken. Da war kein »prickelndes Erschöpfungsgefühl«, wie Sam es versprochen hatte.
Vorher, am Nachmittag, hatte sie aus Zeitschriften Poster von düsteren Rockstars herausgerissen und sie über dem anderen Bett aufgehängt. Und sie hatte Hemden und Socken mit der Hand gewaschen und sie später zusammengelegt in die Kommodenschublade geräumt. Hier lebten wir mit einer Beständigkeit wie schon seit Wochen nicht mehr, und wir wussten das sehr zu schätzen. Draußen fiel ein leichter Regen und sammelte sich auf den Fensterbrettern. In seinen Pfützen spiegelte sich das Neonlicht des
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