Als der Tag begann
die Kälte oder der Mangel an Tiefschlaf, der mein Hirn benebelt hatte, aber ich war nicht auf einen Streit mit Lisa gefasst gewesen. Ich dachte, wir könnten uns wie Schwestern unterhalten, vielleicht Versäumtes nachholen. Ich suchte nach etwas, was ich sagen konnte.
»Okay, verstehe … Hast du Lust, dass wir uns treffen oder so?«
»Na ja … warum, warum willst du dich mit mir treffen?«
Seit ich denken konnte, hatte ich das Gefühl, dass sich Lisas Reaktionen auf mich normalerweise immer am Rand von Feindseligkeit bewegten. Jahre später würde mir ein Therapeut erklären, dass unser Aufwachsen mit so wenig Ressourcen Konkurrenten aus uns gemacht hatte — Konkurrenten ums Essen, um die Liebe unserer Eltern, um alles. Augenblicklich lagen wir im Wettstreit darum, wer besser mit Mas Krankheit umgehen konnte, und wir wussten beide, dass sie dabei war zu gewinnen.
»Keine Ahnung, Lisa. Ich dachte nur, dass wir vielleicht Ma besuchen sollten.« Es kam zur nächsten ausgedehnten Pause.
»Na gut, ich schaffe es gegen sechs. Hol dir einen Stift und einen Block, ich geb dir ihre Zimmernummer.«
»Lisa?«
»Was denn?«
»Happy Thanksgiving.«
»Klar, Liz, für dich auch. Bis um sechs dann.«
»Hallo. Ich suche meine Mutter, Jean Murray. Sie wurde aus dem North Central Bronx Hospital letzte Woche hierherverlegt. Meine Schwester sagte mir, ich würde sie auf diesem Stockwerk finden.«
Die Krankenschwester konsultierte ihre Liste.
»Mal sehen … Jean Marie Murray. Gut, aber du musst eine Maske tragen.«
»Eine Maske? Warum?« Das war neu.
»Alle Besucher von Patienten in Quarantäne sind zum Tragen einer Maske verpflichtet. Und wie alt bist du? Du kannst hier nicht hinein, wenn du nicht mindestens fünfzehn bist.« Die Krankenschwester musterte mich und nahm meine Verwirrung wahr.
»Warum brauche ich denn eine Maske, wo Aids doch gar nicht durch die Luft übertragen wird?«, fragte ich.
»Sie schützt vor TBC«, lautete ihre Antwort. »Deine Mutter könnte husten und dich der Krankheit aussetzen. Es ist zu deinem Schutz.«
»Was?«
»Tuberkulose, Schatz. Das ist eine Lungeninfektion, und an Aids erkrankte Menschen sind anfällig dafür. Musstest du das vorher nie machen? Sag mir bloß nicht, dass dich jemand hier ohne Maske reingelassen hat.«
Mein Gesicht brannte. Ich erinnerte mich an Leonard und Ma während ihrer wochenlangen Gelage in der Küche in der University Avenue. Die ganze Zeit über hatte er unaufhörlich gehustet, mit verschleimten Lungen, bis ihm der Schweiß auf der Stirn
stand und seine Haut hellrot glänzte. Daddys Kommentar dazu lautete lediglich: »Mannomann! So wie sich das anhört, sollte man meinen, der kippt gleich tot vornüber.«
»Wann wurde die TBC bei meiner Mutter festgestellt?«
»Schätzchen, ich bin die Stationsschwester. Keine Ahnung, dazu musst du ihren Arzt befragen.«
Sie reichte mir eine orangefarbene Maske. Zögerlich streifte ich sie mir über und blickte mich um.
Die Station war wie ausgestorben und wirkte unheimlich auf mich. Die herrschende Totenstille verstärkte die übrigen Geräusche: das entfernte Klingeln der Telefone und das nicht enden wollende Piepen zahlreicher Maschinen. Die ganze Abteilung wirkte ungewöhnlich trostlos, sogar für ein Krankenhaus. Es war hier nicht so wie auf den letzten paar Krankenstationen, auf denen Ma gelegen hatte, wo die Schwestern herumwuselten und zur Besuchszeit alle Sorten von Gesichtern auftauchten. Dieser Ort hier war anders. Ich gab mir einen Ruck und machte mich auf die Suche nach Mas Zimmer.
»Nach links, und dann immer weiter, bis es nicht mehr geht«, rief mir die Schwester hinterher.
Ich ging an einem Schild vorbei, auf dem INTENSIVSTATION stand, und einem anderen mit der Aufschrift ONKOLOGIE. Ich hatte keine Idee, was Onkologie bedeutete, dachte mir aber, dass es nichts Gutes sein konnte, wenn es irgendwo zwischen der Intensivstation und der Quarantäneabteilung lag. Ich passierte Türen, hinter denen bewusstlose Patienten lagen, mit nach hinten abgewinkelten Köpfen, damit die Schläuche der Beatmungsgeräte in ihren Hälsen Platz fanden.
Es ist zu deinen Schutz. Ich erinnerte mich daran, wie oft Ma nach Hause gekommen war und meine Hilfe gebraucht hatte. Ich dachte an die Kotze, die in ihre Kleidung gesickert war, bis sie endlich zu mir zurückgekommen war. Ich beschwor den ekelhaften Geruch dieser feuchten, mit Wodka vermischten Konsistenz herauf, der sich auf mich übertrug, wenn ich sie in die
Weitere Kostenlose Bücher