Als der Tag begann
und kribbelten auf meiner Haut.
Ab und zu, wenn Carlos abends alle in den Zimmern bewirtete, rief ich von der Telefonzelle unten bei Brick an. Manchmal war Ma zu Hause, und manchmal erzählte Lisa mir, sie sei im Krankenhaus. In ihrer Stimme lag dann ein mechanischer, vorwurfsvoller Unterton. Einmal war Ma da und ging selbst ans Telefon. Sie fragte mich, wann ich vorbeikommen und mehr Kissen mitbringen
würde; es sei doch nur eine Frage der Fahrerei und des Anstreichens aller vier Wände. Ihre Stimme, die wie die eines verwirrten Kindes klang, verursachte ein Gefühl in meiner Kehle, als wäre sie von Rasiermessern aufgeschnitten. Ich versuchte, nicht zu weinen, aber ich wusste aus meinen Recherchen, die ich in der Bibliothek gemacht hatte, dass Demenz im Endstadium von Aids einsetzte. Lisa übernahm den Hörer.
»Lizzy«, sagte sie, »ich weiß nicht, was du da treibst, aber du solltest vielleicht mal darüber nachdenken, mehr Zeit mit Ma zu verbringen. Vielleicht glaubst du, noch alle Zeit der Welt zu haben, aber da liegst du falsch.« Sie klang wütend, aber auf gar keinen Fall konnte ich ihr von meiner Angst erzählen, Ma dem Tode so nahe zu sehen. Ich beendete das Gespräch, so schnell ich konnte.
Später in dieser Nacht veranstaltete Carlos für die ganze Bande eine Reggae-Party, bei der er sein Radio laut stellte und auf dem Bett herumhüpfte — und wegen der wir rausgeschmissen wurden. Wir zogen in ein anderes Motel, einen museumsreifen Gebäudekomplex, zwei Stockwerke hoch, mit Balkonen versehen und an einer trostlosen Straße gelegen. Gekrönt wurde das Ganze durch ein pinkfarbenes Leuchtschild, auf dem VAN CORTLAND MOTEL stand. Unser Badezimmerfenster ging auf den riesigen Van Cortland Park hinaus. Carlos’ Kommentar lautete, dass wir hier so viel Lärm machen könnten, wie wir wollten. Er zog die ganze Party mit um, und ich bat ihn eindringlich um ein zusätzliches Zimmer, damit ich schlafen könnte. Als ich umzog, hatte sich Fiefs Cousine, ein weißes Girl namens Denise, die riesige Kreolen im Ohr hatte und direkt vor mir eine Kaugummiblase zerplatzen ließ, bei ihm untergehakt. Ich trug ein paar von Sams, Carlos’ und meinen Sachen in das neue Zimmer.
Da fiel mein Blick auf die Zeitungsseite mit den Anzeigen, auf die Carlos die Telefonnummern von Wohnungen gekritzelt hatte. Ich bestellte an der Rezeption eine Auswärtsverbindung, damit ich die Nummer, die Carlos umkringelt hatte, anrufen konnte.
»Hallo?«, meldete sich eine weibliche Stimme. Die Frau hieß
Katrina, war Kellnerin in irgendeiner Billardhalle und hatte überhaupt keine Ahnung von einer zu vermietenden Wohnung. Mir schossen Tränen in die Augen. Ich legte einfach auf, als sie ihre Frage wiederholte, woher ich ihre Nummer hätte.
»Halt’s Maul!«, schrie ich die Zimmerdecke an. »Halt einfach dein Maul!«
Ich fiel in dieser Nacht in einen traumlosen Schlaf, während ich den schalen Zigarettengestank in meinem Zimmer einatmete und mein Freund, meine besten Freunde und ein Haufen fremder Leute in irgendwelchen Zimmern Party machten, sich betranken und Gras rauchten.
Am nächsten Morgen standen Carlos und Sam am Fußende meines Bettes. Carlos’ Stimme weckte mich.
»Hey, kleines Kleeblatt, hast du Lust auf Frühstück?«
»Wo sind die anderen?«, fragte ich. Anhand des Sonnenstands konnte ich mir zusammenreimen, dass es noch früh am Morgen war, und ich nahm an, sie waren noch gar nicht im Bett gewesen.
»Weg«, antwortete er. »Abgang war vor einer Stunde.«
Sam rieb sich den Bauch und stieß ein übertriebenes Wehklagen an. »Uhuhuhu, ich bin so hungrig.« Sie legte sich theatralisch einen Arm über die Stirn. »Eeesssseeen.«
Ich musste mich jetzt sofort entscheiden. Ich könnte Carlos mit der Telefonnummersache konfrontieren und die Gelegenheit nutzen, sein Verhalten in letzter Zeit anzusprechen, oder ich könnte es auf sich beruhen und fünfe gerade sein lassen. Ich sah Carlos an, und einen Moment lang wurde er wieder zu genau dem Fremden wie an dem Tag, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war – geheimnisvoll, gerissen. Doch als er mich anlächelte, ebbten meine widersprüchlichen Gefühle sofort ab, und er war mir wieder so vertraut. Meine Meinung über ihn konnte sich zwischen zwei Wimpernschlägen ändern. Was empfand er wirklich für mich? Wenn er doch nur die ganze Zeit wunderbar wäre und mich nicht so stark auf mich selbst zurückwerfen würde, auf der Suche nach Antworten, die ich nicht hatte.
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