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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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aushalten, wegzugehen machte mich zu einer schlechten Tochter und Schwester.
    »Ich muss los, Lisa. Ich muss einfach los. Versteh das bitte.«
    Ich ignorierte Lisas Augenrollen und beugte mich nach vorn, um mit Ma zu sprechen. Damals wusste ich noch nicht, dass es die letzten Worte waren, die ich an sie richten würde.
    »Ma, ich muss los, okay? Ich verspreche dir, ich komme bald wieder. Ich versprech’s. Mir geht es gut. Ich bin bei Freunden. Ich gehe auch bald wieder in die Schule. Ganz bestimmt, das verspreche ich.« Ich berührte ihre Hand. »Ich liebe dich«, sagte ich zu ihr. »Ich liebe dich, Ma.« Das konnte ich ihr noch sagen. Sie antwortete nicht, und ich schlüpfte auf den Flur hinaus, wo ich mich mit dem Rücken an die Wand lehnte und ein paarmal tief durchatmete. Ich hielt meine Tränen zurück und fühlte mich, als würde ich im freien Fall ins Nichts hinabstürzen. Ich wollte nur schreien. Lisa kam aus dem Zimmer.
    Sie sah auf den Boden, als sie sprach. »Weißt du, Lizzy. Du
gehst einfach … für dich ist das in Ordnung, aber es ist so kaltschnäuzig. «
    »Die ganze Sache ist für jeden von uns schwer, Lisa. Doch jeder geht auf seine Art und Weise damit um. Ich kann hier einfach nicht bleiben, tut mir leid. Du tust so, als hätte ich da draußen einen Mordsspaß, aber so ist es nicht. Keine feste Bleibe zu haben, ist nicht besonders witzig, okay?«
    Sie wandte sich angewidert ab und ging zurück ins Zimmer. Ich flüchtete den Flur entlang, weg von ihr, weg von Ma, ging einfach weg.
    Nachdem er von meinem Besuch im Krankenhaus erfahren hatte, beschloss Carlos, dass ich an diesem Abend aufgeheitert werden musste. Um den Kopf freizukriegen, würden wir etwas total Verrücktes machen: für ein leckeres Essen in ein anständiges Restaurant gehen – in Unterwäsche.
    »Lass die bloß was sagen. Wenn ich die Kohle habe, werden sie uns bedienen.« Er wedelte mit einem riesigen Bündel Fünfziger im Taxi herum. »Hab ich recht, Papa?«, fragte er den Fahrer, der verdutzt lächelte und nickte, als sein Blick unverwandt auf das Geld fiel. Carlos wählte das Land and Sea aus, Ecke 231st Street und Broadway, ein Restaurant, in dem die Wände mit Plastikfischen, Plastiklobstern und Plastikschiffssteuerrädern dekoriert waren – das Ganze akzentuiert durch pinkfarbene Neonlampen, verteilt über die Wände. Wir flogen im Taxi den Broadway hinunter, und Sam und ich kreischten während der rasanten Fahrt laut herum. Wir fuhren vor dem Restaurant vor wie Polizisten an einem Tatort, und Carlos fummelte einen Zwanziger aus seinem Bündel, um den Fahrer für eine Fahrt zu bezahlen, die nicht mehr als sechs Dollar gekostet hätte. »Cheerio!«, sagte Carlos, schlug zweimal hart aufs Autodach und schickte das Taxi wieder los.
    Carlos führte uns zu dem größten Tisch im vorderen Bereich des Restaurants. Die anderen Gäste verrenkten sich die Hälse, um den Typen und seine zwei Girls – es war tiefster Winter – in Männer-Boxershorts,
Stiefeln und Kapuzenpullis zu mustern. Ich behielt meine Strickmütze auf dem Kopf; meine Haare hatte ich zur Hälfte hineingestopft. Sam hatte in einer der Kommodenschubladen im Motel eine alte Krawatte gefunden; sie trug sie über ihrem Pulli um den Hals geschlungen.
    »Wir sind Briten«, flüsterte Carlos uns zu. Als der Kellner an unseren Tisch gehetzt kam, um uns über die Kleiderordnung aufzuklären, sprach Carlos ihn mit einem absichtlich furchtbaren und nicht sehr überzeugenden Akzent an, der Sam und mich losprusten ließ.
    »Guter Mann, wo wir herkommen, ist dies eine angemessene Bekleidung. Machen Sie sich mal nicht ins Hemd.« Carlos holte ein Bündel Scheine hervor und legte es auf den Tisch, ohne seinen Blick auch nur eine Sekunde lang von dem Mann abzuwenden. Problem gelöst.
    Wir aßen Lobster, T-Bone-Steak, Chicken Fettuccine Alfredo, ein Nudelgericht mit Pilzen, und ein halbes Dutzend Vorspeisen. Ich bestellte mit einem vollkommen absurden Akzent, den ich durch die Betonung der falschen Silben erzielte, und bescherte damit Carlos und Sam einen Lachanfall. Es war egal – der Kellner brachte kommentarlos alles, was wir bestellt hatten. Ich behielt meine Kommentare für mich und beobachtete Carlos einfach dabei, wie er einen Zwanziger nach dem anderen aus seinem Bündel zog, um damit für diese haarsträubende Essenseinladung zu bezahlen. Es war mir mittlerweile ganz egal: Mit dem Strom zu schwimmen war so viel einfacher als dagegen.
    Wir fuhren die ganze Nacht mit Taxen

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