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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Ma?«
    »Lisa, lass sie in Ruhe. Ich glaube nicht …«
    »Sie kann sich hinsetzen. Ma?«
    Mas Augen rasten hin und her. Eine Hand öffnete sich und schloss sich wieder, und sie gab ihren Kauderwelsch lauter von sich als vorher.
    »Hergekommen … hergekommen, um mir deine Seele zu geben. Verschone mich! Verschone mich … was ich alles bin … Verschone es. Meins und deins … deins, deins!« Sie sah keine von uns beiden an, und es gab keine Anzeichen dafür, dass sie wusste, wer wir waren.
    »Lisa, ich glaube, wir sollten sie in Ruhe lassen. Vielleicht setzt sie sich ja hin, aber es geht ihr wohl nicht besonders gut.«
    »Lizzy, hör mal. Sie hat zu Hause letzte Woche auch so geredet, und das weiß ich, weil ich dabei war. Sie würde wissen wollen, dass wir hier sind.«
    Ihre Stimme troff vor Verachtung. Ich hielt mich zurück, als Lisa mit ihrem Stuhl genau neben Mas Gesicht rutschte. Sie redete jetzt lauter mit ihr, als ich mich es je getraut hätte.
    »Ma, setz dich hin. Heute ist Thanksgiving. Wir wollten dich besuchen«, sagte sie dann etwas sanfter.
    Noch mehr Kauderwelsch. Aber dann beobachtete ich schockiert, wie Ma tatsächlich begann, sich aufzurichten. Ganz langsam schwang sie ihre Beine aus dem Bett, setzte die Füße auf den Boden und fummelte sich das Überwachungsgerät herunter, während wir ihr schweigend dabei zusahen, wie sie sich auf den Weg
ins Badezimmer machte und dabei den Infusionsständer hinter sich herzog. Ich stützte sie, als sie hin- und hertaumelnd die knapp zwei Meter Entfernung bewältigte und sich dabei an der Tür und an der Wand festhielt. Als sie sich von uns wegdrehte, ging Mas Krankenhemd hinten auf und gab den Blick frei auf ihren nackten Körper. Mir schossen Bilder in den Kopf aus einem von Daddys Dokumentarfilmen über den Holocaust. Wenn sie ruhig dastand, konnte ich ihre Wirbel zählen; sie sahen aus wie die metallenen Bindeglieder einer Fahrradkette, die man straff mit Haut überzogen hatte. Ihre Beckenknochen standen hervor, und auf ihrem Po oder ihren Oberschenkeln war kein Gramm Fett. Im Badezimmer nahm ich ein kleines Handtuch von dem Handtuchhalter aus Chrom und machte es nass. Mit einer Hand wusch ich Mas Po sauber, während ich mit der anderen Hand ihren gebrechlichen Körper abstützte. Das Neonlicht flackerte über unsere Köpfe hinweg auf die Wand. Ich biss mir auf die Lippen, um nicht zu weinen, und tat alles Menschenmögliche, um den Drang zu unterdrücken, wegen des Geruchs ihrer Krankheit husten zu müssen. »Gut, Ma, wir machen dich wieder schön«, versicherte ich ihr. »Wir sorgen dafür, dass alles wieder hübsch und bequem ist, entspann dich einfach.«
    »Okay, Lizzy«, sagte sie mit unglaublich schwacher Stimme.
    Als wir fertig waren, nahm ich ihre Hände in meine und zog sie praktisch ohne Anstrengung von der Toilette hoch; sie war so leicht, dass es mir Angst machte. Alles machte mir Angst. Ich war in Schrecken versetzt und wollte nichts mehr auf der Welt, als ihr Erleichterung zu verschaffen. Nachdem ich sie zurück ins Bett gebracht hatte, wusste ich, dass ich hier rausmusste.
    »Willst du schon gehen?«, fragte Lisa, als ich mich in der Nähe der Tür herumtrieb. Ich zitterte am ganzen Körper und wollte nur allein sein. Mein Herz hämmerte; ich konnte es hier keinen Moment länger aushalten. Und ich würde ganz bestimmt nicht vor Lisas Augen zusammenbrechen.
    »Na ja, also, ich war ja doch schon vor dir hier, eine ganze Weile
… und ich glaube, ich sollte bald mal gehen, weil ich bin irgendwie müde. Ich habe letzte Nacht nicht viel geschlafen.«
    »Was auch immer.« Sie verdrehte die Augen und wendete sich ab.
    »Lisa, das ist alles nicht so einfach für mich, okay?«
    »Ja, klar, Liz. Ich muss auch damit klarkommen. Ich weiß, dass es nicht einfach ist. Ich dachte mir sowieso schon, dass du nicht lange bleiben wirst, also zisch einfach ab«, sagte sie schluchzend.
    »Jeder geht anders damit um, Lisa.«
    »Ach ja, scheint mir auch so«, giftete sie mich an.
    Ich hatte mich nicht darauf vorbereitet, wie erschreckend das hier sein würde, und auch nicht auf meine Gefühle, wenn ich Ma so sah und nur hilflos danebenstehen konnte. Ich wusste nicht, wie ich mit der Frustration umgehen sollte, nichts mehr für Ma ändern zu können; ich wünschte, Lisa und ich könnten uns gegenseitig stützen, aber sie wollte, dass ich es genauso machte wie sie, und das konnte ich mir nicht leisten. Ich fühlte mich aufgeschmissen. Hierzubleiben könnte ich nicht

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