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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Morgensonne golden von den Windschutzscheiben der parkenden Autos reflektiert wurde und Spatzen die mit Raureif überzogenen blanken Äste eines Baumes bevölkerten. Keine von uns beiden gab zu, Angst zu haben, aber unter den über uns aufgeschichteten Decken nahm Sam meine Hand und hielt sie fest. Von Zeit zu Zeit, sobald der Wind am klapprigen Fensterladen aufheulte und ein kühler Luftzug durch den Spalt zwischen Tür und Boden aufstieg, drückte sie meine Hand fester.
    Weniger als eine Stunde später wachte ich auf, weil Sam mich anstupste. Als ich meine Augen öffnete, hielt sie einen Finger an ihre Lippen und bedeutete mir, still zu sein. Zuerst dachte ich instinktiv, der Motelbesitzer sei in der Nähe, um uns rauszuwerfen. Aber dann zeigte Sam auf den Boden. Zwischen dem Bettende und dem alten Heizkörper sah ich sie: eine Mäusefamilie, eine große Maus und vier kleine Babys, die das fraßen, was wir verschmäht hatten, da es uns eindeutig zu riskant und ekelig erschienen war.
    Vollkommen reglos sahen wir zu, wie die fettigen Essenstüten
durch das Gewicht der fünf hinein- und hinausschießenden Mäuse zitterten und wackelten. Ihr niedlicher Anblick setzte uns vollkommen außer Gefecht. Sie waren grau, nicht viel heller als der Motelteppich, mit rosafarbenen Näschen und glänzenden schwarzen Augen. Wir bewegten uns nicht und entdeckten so, als die größte von ihnen Essen hin- und hertrug, dass sich ihr Nest im Heizkörper befand, irgendwo nahe der Schlitze auf der Rückseite, die entlang der obersten Reihe der Heizschächte verliefen.
    »Das heißt aber, dass sie uns von da aus die ganze Zeit sehen konnten«, flüsterte ich Sam zu. Sie nickte nur, und ihre nach oben gezogenen Augenbrauen signalisierten, wie sehr sie von den Mäusen angetan war.
    »Ich mag vor allem die Babys«, antwortete sie mir schließlich flüsternd.
    »Ich auch«, sagte ich sanft, »die sind so was von süß.«
    Wir blieben auf unserem Beobachtungsposten, bis die Sonne ganz aufgegangen war und die abreisenden Gäste ihre Zimmer räumten, Türen öffneten und zuschlugen, ihre Autos starteten.
    Die Mäuse gingen im Zickzack Dutzende Male aus den Tüten hinaus und wieder hinein, erschreckten sich gegenseitig mit ihren brüsken Bewegungen, verschwanden dann schnell wieder in ihrem Versteck, nur um unmittelbar danach wieder aus den Schächten herauszulinsen und erneut loszuziehen.
    Ich hörte als Erste sein Taxi vorfahren. Meinem Gefühl nach konnte es nur Carlos sein, weil die aus dem Autoradio dröhnende Hip-Hop-Musik immer lauter wurde. Eine Tür öffnete sich und wurde gleich darauf wieder zugeschlagen. Sam sah mich an.
    »Ich weiß nicht, ob ich beruhigt oder wütend sein soll«, sagte sie.
    »Ich auch nicht«, pflichtete ich ihr bei. Ich wollte erst einmal abwarten, wie seine Laune war. Ich war es gewöhnt, meine eigenen Gefühle nur im Vergleich mit anderen Leuten wahrzunehmen. Wenn er zufrieden war, war ich es auch. Carlos hatte die ganze
Zeit über das Sagen gehabt, weil ich es zuließ. In diesem Augenblick ertappte ich mich dabei, es wieder genauso zu machen, und es machte mich krank.
    Wir blieben, wo wir waren, und warteten darauf, dass seine schweren Schritte näher kamen. Dann klimperten seine Schlüssel im Schloss. Mein Herz schlug schnell wie ein Presslufthammer in meiner Brust. Carlos kam pfeifend ins Zimmer.
    »Hi«, sagte er beiläufig. Er sah müde aus, hatte geschwollene Lider und Ringe unter den Augen. Irgendwie wirkte er anders. Ich überlegte, ob er wohl durchgehend wach gewesen war, seit wir ihn das letzte Mal gesehen hatten; ich wollte wissen, was er gemacht hatte. Er setzte sich ans Fußende von Sams Bett; ich konnte den Zigarettenrauch riechen. »Was läuft, meine Kleinen?«, fragte er scherzhaft. »Ich jedenfalls fall gleich in Ohnmacht.« Er wich meinem Blick aus und schnürte seine Stiefel auf.
    »Wo warst du, Carlos?«, fragte ich, so als sei es keineswegs problematisch, ihm Fragen zu stellen.
    »Sagte ich doch bereits, Kleeblatt. Bei Mundo. Hab den Irren seit Jahren nicht mehr gesehen.«
    »Warum hast du nicht angerufen?« Ich sorgte dafür, dass er den Ärger in meiner Stimme hören konnte. Heute würde ich nicht auf seinen Scheiß reinfallen.
    Er ging durchs Zimmer, räumte unnötigerweise Dinge von rechts nach links und wieder zurück – die Fernsehantenne, seine Boots unterm Bett, unsere Haarspraydose auf dem Badezimmerregal – und ignorierte meine Fragen.
    »Carlos, hörst du mich?«
    Als Antwort

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