Als der Tag begann
fragte Sam.
Tränen liefen mir über die Wangen. Ich wischte sie schnell weg, den Blick immer noch auf das Telefon gesenkt. »Meine Mutter ist gestorben«, sagte ich und klang dabei so schal und endgültig, wie es sich für mich auch anfühlte.
Carlos’ starke Arme schlangen sich plötzlich um mich.
»Ich muss los«, sagte ich. »Ich muss Lisa treffen. Ich muss meinen Vater anrufen.«
Sam rief uns ein Taxi. Bis es kam, ging ich draußen in die Telefonzelle und rief in Daddys Wohnheim an. Mir drehte sich der Magen um, als ich seine Stimme hörte, in dem Wissen, was ich ihm zu sagen hatte.
»Daddy … sitzt du?«
Wir weinten zusammen, er im Büro des Heims, mit der Stoppuhr getimt und überwacht vom Personal, und ich draußen vor dem Motel in der eisigen Kälte. Auch wenn ich meinen Vater nie hatte weinen sehen, schluchzten wir in diesem Moment gemeinsam, und ich konnte spüren, wie es uns beiden das Herz brach.
Das Taxi brachte mich in einem Schleier aus Tränen nach Bedford Park, und meine Welt drehte sich im Kreis. Die ganze Fahrt über starrte Carlos mir ins Gesicht, rieb immer wieder meine Knie und drängte mich, etwas zu sagen. Ich hätte nicht weiter von ihm entfernt sein können. In diesem Moment dachte ich nur an Ma, Lisa und Daddy. Die Schwere unseres Verlusts spülte die Trivialität aller anderen Dinge weit fort.
Ich traf Lisa im Tony’s. Sie trug einen alten Mantel, der aussah wie einer von Ma. Sie saß allein an einem der Tische im hinteren Bereich, vor einer Tasse Kaffee, ohne etwas zu essen. Ihre Augen waren blutunterlaufen. Als ich auf sie zuging und wir uns ansahen, brach es mir noch einmal das Herz.
9
Perlen
27. Dezember 1996
Liebe Ma,
ein Grund, warum es so schwer ist, Dich zu verlieren, sind die vielen Dinge, die wir uns nie mehr werden sagen können. Genau das hat der Tod geschafft – uns der Worte zu berauben, die wir noch loswerden wollten.
Hast Du es genauso stark gespürt wie ich? Die Last all dessen, was ungesagt geblieben ist?
Während der vergangenen sechzehn Jahre habe ich gelernt, meine Gefühle wegzustecken. Wie ich all das hinunterschlucke, was ich nicht sagen konnte, weil ich Dich nicht verletzen oder von mir stoßen wollte.
Du und ich, Ma, das erinnert mich daran, wie Perlen entstehen. Die Leute betrachten Perlen als wunderschöne, perfekt geformte Schmuckstücke, begreifen aber nie, dass sie eigentlich aus Schmerz entstehen – aus etwas Hartem und Gefährlichem, das in einer Auster gefangen ist, wo es nicht hingehört. Die Auster erschafft eine Perle, um sich zu schützen.
Hinter meinen versiegelten Lippen, Ma, habe ich genau das Gleiche getan – das Leid meiner Familie wie eine Auster verinnerlicht, bis Perlen entstanden sind, Tausende kleine Verluste, die gesammelt
wurden. Aber nun bist Du trotzdem weg, und ich weiß nicht einmal, ob mein Schweigen uns irgendetwas gebracht hat.
Du bist an einem Mittwoch gestorben, um halb neun Uhr morgens. Ich war irgendwo, hab geschlafen, gelacht oder Dich vergessen.
Genau das werde ich mein Leben lang bedauern.
Du warst allein, als Du gestorben bist. Seit Tagen hatte Dich niemand mehr besucht. Ich war fast einen ganzen Monat nicht mehr da gewesen. Hattest Du Sorge, Deine Tochter käme nie wieder vorbei, um Dich zu sehen? Fiel es Dir dadurch leichter zu gehen? Ich war immer für Dich da, um Dir Geld zu geben, Dich sauber zu machen, um Dein Tagebuch zu sein. Warum war ich nicht da, als Du im Sterben lagst? Als Fremde Deine Kleidung gewechselt, Dich gefüttert und mit ihren Händen Deinen nackten Körper berührt haben, der so zerbrechlich war wie der eines frisch geschlüpften Vogels?
Ich weiß, dass sie sich an Deinem Bett kaltschnäuzig über ihr Privatleben ausgetauscht haben, während sie mit baumelnden Armreifen, ihre Hände benetzt mit teurem Parfüm, Deine Bettpfanne geleert haben. Diese Isolation muss Dir Angst gemacht haben.
Hattest Du Angst, Ma?
Während ich Sex hatte und Hamburger aß und in der Sonne lag, hattest Du da Angst?
Ich bin keine Einzelgängerin mehr, Ma, ich habe Freunde. Einige kamen zu Deiner Beerdigung. Erinnerst Du Dich an Carlos? Er war auch da. Er ist jetzt mein richtiger Freund. Sam hat es nicht geschafft. »Ich kann nicht, Liz, solche Sachen sind zu deprimierend«, sagte sie, kurz bevor ich ins Taxi stieg. Die Überführungskosten haben wir aus einem Spendentopf bezahlt, den sie in Deiner Kneipe, dem Madden’s , zusammengekriegt hatten. Eine Freundin von Dir hat für uns gesammelt. Ich
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