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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Falls es mir dennoch gelang einzuschlafen, quälten mich Schuldgefühle. Ich hatte einen immer wiederkehrenden Albtraum, in dem ich Ma den Rücken zukehrte, als sie mich am dringendsten brauchte, und deshalb starb sie immer wieder von vorn – jedes Mal, wenn ich ins Bett ging.
    New York City war von einer alle Rekorde brechenden Kaltfront betroffen. Das Motelmanagement entschied irgendwann, auf die Klagen über die strenge Kälte zu reagieren und die Heizung hochzudrehen. Die Luft wurde durch die Heizungswärme drückend. Während ich in meine Decken verheddert um Schlaf rang, war ich in Carlos’und meinem eigenen Schweiß gebadet. Ich erinnere mich nur bruchstückhaft an diese Zeit: der Duft von einem Dutzend Rosen, die er an mein Bett stellte; ihr Tag für Tag stärker werdender süßlich-modriger Geruch, während Carlos’ Radio ächzte und krächzte, mal mit langsamen Schmusesongs, mal mit Old-School-Rap wie Slick Rick, Grand Master Flash, The Furious Five. Sam schmierte sich vor dem Spiegel schwarzen Lidschatten um die Augen und Glitzergloss auf die Lippen.

    Im wachen Zustand war meine Gemütsverfassung instabil. Ich hatte meine Emotionen nicht im Griff; sie schwappten ständig einfach nur aus mir heraus, oder aber ich fühlte gar nichts mehr und verstummte. Am dritten Abend hatte Carlos genug von meinem Verhalten. Er reizte mich mit Flirtanrufen, wobei die anderen Girls draußen vor unserem Fenster postiert waren, direkt in meinem Blickfeld. Dann lud er Sam zu langen Spaziergängen ein und kam erst Stunden später ohne eine Erklärung wieder zurück, wobei er zusätzlich Reste aus schicken Restaurants nach Hause schleppte, deren französische oder italienische Namen in geschwungener Schrift auf die mit Fettflecken übersäten Tüten gedruckt waren – alles Orte, an denen er mit mir nie gewesen war. Ich wusste, dass meine Traurigkeit alle Luft aus dem Zimmer saugte und ich kein angenehmer Zeitgenosse war.
    Unsere letzte gemeinsame Nacht im Motel war die an Silvester, hinein in die ersten Stunden von 1997. Lang auf den Betten ausgestreckt, teilten wir drei uns eine Tüte Sonnenblumenkerne und sahen im Fernsehen zu, wie der Ball am Times Square fiel. Punkt Mitternacht regnete es dort eine Million Papierschnipsel in allen Farben. Das erste Jahr ohne dich, Ma, dachte ich.
    Carlos verschwand für drei Tage. Da wir nichts wirklich Wertvolles in petto hatten, verkündete der Motelmanager Sam und mir, dass wir Punkt elf Uhr vormittags und keine Minute später »unsere Ärsche auf der Straße sehen« würden. Schweigend und abwartend verbrachten wir die letzte lange Nacht, und keine von uns beiden war gewillt, das laut auszusprechen, von dem wir beide wussten, dass es stimmte: Dieses Mal würde er nicht zurückkommen. Ich weiß nicht mehr, wer zuerst mit dem Packen begann, nur noch, dass wir uns gegenseitig halfen. Sam schmiss ihre Besitztümer wahllos in einen Koffer, den sie im Müll gefunden hatte: Comichefte, Töpfchen mit Haarfarbe, ihre Gedichte, zerrissene Jeans und einen Rautenpulli. Alles, was ich besaß, wanderte in meinen Rucksack: mein Tagebuch, die NA-Münze meiner Mutter, ein paar
Klamotten und das einzige Foto von Ma, das ich überallhin mitnahm, jene Schwarz-Weiß-Aufnahme aus Greenwich Village, als sie mit siebzehn Jahren obdachlos war. Trotzig warfen wir unsere Habseligkeiten in unsere Taschen, und das, was uns nicht gehörte, schmissen wir gegen die Wand oder kickten es mit festem Tritt durchs Zimmer.
    Sam hatte zehn Dollar für Notfälle versteckt. Weil der Weg zur Haltestelle mit unseren viel zu schweren Taschen zu weit war, nahmen wir nach Sonnenaufgang ein Taxi zum Bedford Park Boulevard – die Koffer hinten drin, jede mit einem Rucksack auf dem Schoß und einem Müllsack voll Kleidung im Kofferraum. Wir hatten keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
    Wir wollten uns nicht trennen, es passierte einfach. Sam zog los, um Oscar zu besuchen und ihre Taschen dort unterzustellen. Da es Sonntag war, ging ich davon aus, dass meine Freunde zu Hause waren, also klopfte ich überall an: bei Bobby, bei Jamie, bei Josh, bei Fief, überall da, wo ich mir Chancen ausrechnete. Bobby ließ mich meine Mülltüte voll Kram bei ihm in den Schrank stopfen. Ich duschte bei Jamie, während ihre Mom unterwegs war. Gerade als ich mir die Haare trocknen wollte, klopfte Carlos an Jamies Tür. Sie drehte sich zu mir um und sah mich an, die Hand noch auf dem Türknopf, als wollte sie sagen: Was willst du bloß mit

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