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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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darauf knallte er eine Schublade zu, öffnete die nächste, griff nach einer Boxershort und knallte diese Schublade dann noch fester zu.
    »Du hättest wenigstens mal anrufen können.«
    »Wo ist meine Uhr?« Seine Stimme klang eiskalt, und er sah mir zum ersten Mal, seit er ins Zimmer gekommen war, direkt in die Augen. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Sam sah mich an.

    »Wo deine Uhr ist?«, wiederholte ich blöd.
    » Ja. Wo … ist … meine … Uhr?« Seine Augen waren glasklar, und es lag keine Spur von Zärtlichkeit darin.
    »Wir haben sie dem Motelbesitzer verkauft, damit wir die Nacht bleiben konnten, nachdem du uns hier zurückgelassen hattest.«
    Einen Moment lang passierte gar nichts, dann holte Carlos mit einem Bein aus und kickte den Mülleimer quer durchs Zimmer, wo er erst gegen eine Wand flog und dann über den Boden rollte. Sam und ich schossen aufeinander zu und stellten uns dicht zusammen. Ich zitterte.
    »Warum verkauft ihr meine Uhr?«, brachte er gerade noch zwischen den Zähnen hervor. So hatte ich ihn noch nie erlebt; er war wie besessen.
    »Du hast uns hier einfach vergessen.« Eigentlich hatte ich nicht so weinerlich klingen wollen.
    »Na ja, ich bin auch nicht für euch verantwortlich!«, schrie er uns an.
    »Verantwortlich für uns? So siehst du das also?« Ich wusste, dass er recht hatte, und ich war wütend und gleichzeitig beschämt, als er es so deutlich sagte. »Wir hatten gestern Besichtigungstermine. Du hast sie verpasst.« Jetzt weinte ich.
    »Hör auf mit dem Scheiß!« Er schlug mit der Faust einmal, zweimal gegen die Wand neben dem Spiegel, dadurch lösten sich meine ganzen angeklebten Liebesbriefchen und segelten wie Laubblätter auf den Boden. Sam umklammerte ein Kissen, das voller lila Flecken war. Gemeinsam sahen wir zu, wie Carlos ins Bad stürmte und die Tür zuknallte.
    Er drehte das Wasser am Waschbecken und in der Dusche voll auf und kam über eine Stunde lang nicht heraus. Für einen Moment saßen Sam und ich einfach nur auf dem Bett und sprachen kein Wort. Ich musste etwas tun, also stand ich auf und schaltete zur Ablenkung den Fernseher ein.
    »Was zum Teufel war das denn?«, sagte ich schließlich unter
Tränen und deutete auf das Badezimmer. »So hat er sich noch nie aufgeführt.«
    »Ich habe keine Ahnung«, wisperte Sam. Ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr Angst hatte. Aber wir gingen nicht weg, wir warteten einfach ab und hofften, dass er, wenn er da rauskäme, wieder der Alte wäre, mit uns essen gehen und ein paar Witze reißen würde, sogar wenn das hieße, sein Verhalten von gerade eben zu ignorieren.
    Als Carlos schließlich aus dem Bad trat, mit frisch gewaschenen Haaren und glatt rasiert, zog er eine Decke von Sams Bett und legte sich zum Schlafen auf den Boden, ohne irgendetwas zu uns zu sagen. Ich war froh, dass er nicht in meine Nähe kam; brauchte ich doch eine Ewigkeit, um mich zu entspannen.
    »Sam?«, flüsterte ich.
    »Was ist?«
    »Kommst du mit ins Bad? Ich will nicht allein gehen.«
    Wir traten über Carlos’ riesigen schlafenden Körper. Im Badezimmer waren seine Sachen wild über die farbverspritzten cremefarbenen Fliesen verteilt – seine Armeehose war achtlos auf den Boden geschmissen, das Bündel Geldscheine quoll aus einer Tasche hervor, daneben lag ein Wegwerfrasierer. Das ganze Waschbecken war mit Härchen übersät. Ich wusch mir die pinkfarbenen Streifen hinter meinen Ohren weg, während Sam pinkelte.
    »Ich hab das Zeug überall«, sagte ich.
    »Stimmt.« Sie strich sich mit der Hand über ihren Strubbelkopf. »Meiner ist leichter wieder sauber zu kriegen. Gibst du mir Klopapier, Liz?«
    »Klar.«
    Ich beugte mich vor und griff unter dem Waschbecken nach zwei Klorollen, als mein Blick an etwas Glänzendem hängen blieb. Es war ein kleines Stück abgeschnittene Alufolie, genau in der Größe der Kokainbriefchen, die Ma und Daddy in der ganzen Küche verteilt hatten herumliegen lassen. Ohne meinen Blick von
der Alufolie abzuwenden, reichte ich Sam das Klopapier und ging in die Hocke.
    Mitten auf der Folie, kaum sichtbar und winzig klein, fand ich staubkorngroße Reste von weißem Puder.
    »Sam! Sam.«
    »Ja.«
    »Zieh nicht ab. Sei still und sieh dir das an … Er ist auf Koks.«
    Die Entdeckung von Carlos’ heimlicher Gepflogenheit machte in meinen Augen aus einem exzentrischen, urkomischen und originellen Menschen einen Junkie mit starker Persönlichkeitsstörung. Die beiden folgenden Nächte hielt ich mich fern von seinen

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