Als der Tag begann
dem?
Carlos’ Blick war unstet und schoss kreuz und quer durch den Flur. »Ich hab uns ein neues Zimmer besorgt, Kleeblatt. Komm, wir gehen.«
Ich brauchte eine verlässliche Bleibe. Aber weil ich nicht wusste, wann Jamies Mom wieder nach Hause kommen würde und ob ich überhaupt bei irgendjemandem bleiben könnte, hörte ich nicht auf mein Bauchgefühl und ging mit ihm. Im Taxi, mit immer noch klatschnassen Haaren, fragte ich: »Können wir Sam holen?«
»Später«, sagte Carlos, und ich hütete mich davor, ihn unter Druck zu setzen. Seine Armeeklamotten waren total verdreckt und benötigten ganz offensichtlich eine Reinigung. Er war unrasiert,
und an seinen Timberlands fehlten merkwürdigerweise die Schnürsenkel. Er klopfte mit einem Finger an die Plexiglastrennwand. »New England Thruway, Ausfahrt zwölf plus eins«, sagte er.
»Was?«, fragte der Taxifahrer nach.
»New England Thruway, Ausfahrt ZWÖLF PLUS EINS!!«, brüllte Carlos los. Er fuhr sich hektisch durch die Haare und sah mich missmutig an. »Der Teufel lauert hier überall, und er wird mich nicht dazu bringen, seine Zahl auch noch laut zu auszusprechen. Der verarscht mich, Kleeblatt. Ganz sicher.«
Mein Herz raste. »Dreizehn?«, sagte ich lediglich. »Meinst du Ausfahrt dreizehn?«
Carlos zuckte beim Klang der Zahl zusammen und hielt sich die geballte Faust vor den Mund. »Ja«, sagte er in einem Ton, der schal und psychotisch klang, und nickte dazu langsam mit fest zugekniffenen Augen.
Warum bin ich bloß zu ihm ins Taxi gestiegen?, dachte ich. Ich hatte keine Ahnung, auf was Carlos war, aber dass er high war, stand fest.
Ich atmete tief durch. »Er will den New England Thruway nehmen, bis zur Ausfahrt … dreizehn«, wies ich den Fahrer an und zog den Kopf ein, als Carlos Schimpftiraden auf Spanisch ausstieß. Das Taxi fuhr schneller.
Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann …
Unser neuester Unterschlupf war ein beliebter Stopp am Straßenrand für Trucker und Leute, die ein paar Stündchen Spaß haben wollten. Er hieß Holiday Motel und war dem Van Cortland Motel nicht unähnlich, nur dass ich diesmal keinen blassen Schimmer hatte, wo wir waren. Ich wusste nicht, wie ich hier an irgendein Fortbewegungsmittel kommen sollte, das nicht mit Carlos zusammenhing, und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass wir Sam später nicht aufgabeln würden.
In diesem Motel gab es nichts außer dem Highway, verwahrlost aussehenden Leuten, Carlos und mir.
Ich beschloss, dass ich am besten damit fuhr, nett und ruhig zu sein. Was immer Carlos anordnete, führte ich aus, selbst wenn ich nicht seiner Meinung war. Alles andere machte mir zu viel Angst, und er nutzte meine Angst bei jeder sich bietenden Gelegenheit aus. Was sich da abspielte, war die gehässige Version des Kinderspiels »Simon says«: Er befahl, ich sprang. »Ab ins Zimmer«, brüllte er mich an, nachdem er den Manager bezahlt hatte. Also gingen wir hinauf. Nur er hatte einen Zimmerschlüssel. Und ich wartete. Während ich vor Kälte bibbernd dabei zusah, wie er sich endlos Zeit ließ, erst seinen Beeper zu überprüfen, dann sein Handy, wie er mit dem Schlüssel ein paar Zentimeter vor dem Schloss verharrte und wir dadurch der eisigen Kälte im unbeheizten Flur ausgeliefert waren – alles nur, weil er die Anweisungen gab. In den folgenden Tagen rief er mehrmals spontan »Zeit, was zu essen!« durchs Zimmer. Dann galt: Aufbruch jetzt sofort und keine Minute früher oder später. Ich griff nach meinem Mantel und folgte ihm. Wenn die Kasse anschließend – was nicht einmal, sondern zweimal passierte – für unsere Bestellung die Summe von dreizehn Dollar fünfzig Cent anzeigte, schlug er auf den Tresen und verließ den Laden. Unsere gepackten Tüten blieben unerreichbar hinter der Theke stehen, und ich blieb hungrig. Und wenn er an manchen Abenden das Motel verließ und meine Fragen, wo er hinginge oder wann er wieder da wäre, unbeantwortet blieben, dann wartete ich eben weiter.
Diese Nächte kommen heute noch oft zu mir zurück, Nächte, die ich allein im Holiday Motel an der Ausfahrt »zwölf plus eins« des New England Thruways verbracht habe. Diese Nächte waren mein absoluter Tiefpunkt.
Ich klebte am Fenster und wartete auf Carlos, hörte durch die dünnen Wände der fortwährenden Prostitution zu und hatte kein Geld, um zu telefonieren. Ich hatte auch keinen Ort, an den ich
mich flüchten konnte. Daddy hatte mir mal erzählt, dass er acht Wochen
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