Als der Tag begann
zweiundzwanzig, früher mal von zu Hause abgehauen und schließlich vernünftig geworden. Danny erzählte mir, sie hätte sich wacker geschlagen und jetzt einen festen Job und eine eigene Wohnung, die sie ohne Mitbewohnerin bezahlen konnte. Es war eine winzige Einzimmerwohnung über einem China-Restaurant, so eng, dass man vom Wohnzimmer direkt in die Küche fiel, weil sie tatsächlich zusammengelegt waren. Sie hatte es aus eigener Kraft geschafft.
Als Paige für uns alle Huhn mit Reis kochte, machte die Hitze aus der kleinen Wohnung die reinste Sauna. Ihre Locken klebten feucht an ihrer Stirn fest. Sie wischte sie zur Seite, bevor sie mich ansprach.
»Bist du dir sicher, dass du nicht doch am GED-Test teilnehmen willst, um nachträglich deinen Highschoolabschluss zu bekommen? « Sie stellte mir einen dampfenden Teller auf den Schoß.
»Nein. Ich hab mir überlegt, meinen Abschluss an einer Alternativhighschool zu machen, nichts anderes. Der GED-Test interessiert mich nicht. Man hat mir gesagt, dass er super ist, aber es ist nicht das, was mir vorschwebt … Es fällt mir nur eben schwer, zur Schule zu gehen, weißt du? Da sind so viele Leute, und ich hänge wirklich hinterher.«
»Vielleicht wäre ja meine frühere Highschool das Richtige für dich.« Sie füllte einen Teller für Danny.
Von Paige erfuhr ich, wie eine Alternativhighschool in New York City funktionierte. »Es läuft ab wie in einer Privatschule, für all diejenigen, die wirklich motiviert sind mitzumachen, auch
wenn sie kein Geld haben. Die Lehrer kümmern sich richtig um einen«, erzählte sie mir.
Ich kritzelte den Namen und die Adresse der Schule in mein Tagebuch, während sie von ihren Erfahrungen an der Highschool berichtete und irgendwann in eine Anekdote über ihren Exfreund abdriftete. Beim Zuhören malte ich mit meinem Stift die Telefonnummer ihrer Schule aus, bis ich den Ziffern ein dreidimensionales Leben eingehaucht hatte und sie mich förmlich ansprangen.
Später, als es dunkel in der Wohnung war und alle schliefen, setzte ich mich in Paiges Sessel und schrieb mir im Licht der Nachttischlampe ein paar Dinge auf.
Zuerst verfasste ich auf einer Seite eine Liste:
Auf diese Sachen freue ich mich, wenn ich endlich eine Wohnung habe:
Privatsphäre
Immer im Warmen zu sein
Immer etwas zu essen im Haus zu haben
Ein großes Bett!!
Saubere Anziehsachen, vor allem Socken!
Zu schlafen, ohne dass mich jemand aufweckt
Warmes Wasser in der Badewanne
Ich blätterte zur nächsten leeren Seite um und tippte ein paarmal mit dem Stift auf das Papier. Im Flur tickte eine Uhr. Über die ganze Wand verteilt hingen Paiges Bilder aus ihrem Kunstkurs an der Highschool, lebendige Rot-, Gelb- und Grüntöne auf riesige beigefarbene Leinwände verspritzt. Ich studierte ein Foto, das neben den Gemälden angebracht war: Eine Frau, die, mit noch lockigerem Haar, wie eine ältere Ausgabe von Paige aussah, stand in ihrem Sonntagskleid neben einem gedrungenen Mann mit grau meliertem Bart und Krawatte. Paige war zwischen den beiden eingeklemmt. »Das war bei meiner Abschlussfeier«, hatte Paige mir vorher erzählt, »wir haben eine Million Fotos an dem Tag gemacht.
Ja, und meine Kunstlehrerin war so traurig, mich gehen zu sehen, dass sie weinte.«
Ich tippte noch mal auf meine leere Seite, dann schrieb ich weiter:
Anzahl der Punkte, die man für einen
Highschoolabschluss braucht:
40? 42? (informier dich)
Mein Alter, wenn das nächste Schuljahr beginnt:
17
Meine derzeitige Adresse:
wo ich gerade unterkomme
Meine derzeitige Gesamtpunktzahl
an der Highschool:
1
Eigentlich wäre die Anzahl meiner Punkte gleich null gewesen, wenn ich nicht ab und zu mal mit Sam bei der John F. Kennedy High School vorbeigeschneit wäre. Sam war offiziell gar nicht an meiner Highschool eingeschrieben, aber wem würde bei über sechstausend immatrikulierten Schülern ein Neuzugang mehr auffallen? Gemeinsam saßen Sam und ich in den übervölkerten Sozialkundekursen von Mrs Nedgrin und gaben eine Vorstellung, die man als »Seht her, wir sind total durchgeknallt« hätte bezeichnen können. Sams Haare waren damals feuerrot und wurden von zwei riesigen Essstäbchen zu einem Knoten zusammengehalten. Ihr schwarzes Augen-Make-up war dick um die Augen gemalt wie bei einem Waschbär. Ich war auf dem Gothic-Trip und trug nur Schwarz, so wie an fast allen Tagen, seit ich aus dem Erziehungsheim gekommen war. Als passendes Accessoire zu meinem Outfit klaute ich ein schwarzes
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