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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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aufwachten, aber meistens kam ich auf ungefähr vier Stunden Schlaf. Bei Myers bekam ich seinen Schlafsack für die Nacht. Sobald er ihn für mich zwischen seinem
Computertisch und seinem Bett ausrollte, belegte ich den einzigen freien Platz in seinem schmalen rechteckigen Zimmer.
    Jamies Mom kochte Reis mit Bohnen, und Jamie teilte ihre Portion mit mir, während wir nachts in der Küche Kassetten von Nine Inch Nails anhörten, über Jungs tratschten oder alte Filme diskutierten. In Bobbys Wohnung war das Duschen am besten. Ich genoss den sauberen Geruch seines Shampoos von Pantene, seine blauen parfümierten Seifenstücke und dass ich auf die Tampons seiner Mutter und ihr Deodorant zurückgreifen konnte.
    Meine Freunde ernährten mich, oder ich schnorrte mir ab und zu genug Geld zusammen, um mir einen Teller Pommes frites mit Mozzarella und Soße bei Tony’s leisten zu können. Tony hatte nichts dagegen, dass ich mich zum Essen hinsetzte, und so war ich stundenlang im Warmen. Aber wenn niemand da war, den ich aufsuchen konnte, klaute ich mir alles Mögliche im Supermarkt zusammen. Dreist und ohne Furcht schob ich Brot, Schmierkäse und kernlose grüne Trauben in meinen Rucksack oder in die Vordertasche meines Kapuzenpullis. Egal was, solange ich genug davon essen konnte, um die Schmerzen in meinem Bauch zu verjagen. Aber das war nicht das Schwierige daran. Wenn ich etwas brauchte, fand ich heraus, wie man es bekam, genauso wie ich mein ganzes Leben lang versucht habe, meine Bedürfnisse zu befriedigen. Kein Essen im Kühlschrank? Pack Tüten im Supermarkt, tank Autos voll. Ma und Daddy im Chaos versunken? Hau einfach ab. Die Schule nervt? Geh nicht hin. Alles ganz einfach. Ich wusste immer, wie ich Schwierigkeiten umschiffen musste. Nein, das Komplizierte an der Situation, ganz auf mich allein gestellt zu sein, war etwas ganz anderes.
    Mit Sam und Carlos an meiner Seite war es kein Problem gewesen, an Türen zu klopfen und sich mithilfe meiner Freunde durchzuschlagen. Wenn es mich verlegen machte, mal wieder um Hilfe zu bitten, konnte ich mir ja immer noch einreden, dass wir ja nur »gesellig« waren und zu dritt auf einen »Besuch« vorbeikamen. Aber allein und obdachlos zu sein, stellte alles auf den Kopf.
Es enthüllte glasklar, wie bedürftig ich war, und genau das hasste ich.
    Ja, manchmal durfte ich die Nacht über dableiben, aber es hatte seinen Preis. Es waren Kleinigkeiten, die mich trafen. Wenn ich zur Essenszeit bei Bobby das Getuschel am Herd mitbekam, wie Bobby und seine Mutter im Flüsterton darüber stritten, ob es an diesem Abend genug zu essen gab, um es mit mir zu teilen. Oder wie ich schon im Flur von Jamies Haus die Diskussionen mit ihrer Mutter verfolgen konnte, ihre endlosen, eskalierenden Streitereien, ob ich noch eine Nacht länger bleiben durfte. Selbst bei Fief konnte es schwierig werden, wenn er für zwei Wochen nach Yonkers zu seinen Cousins abhaute und sein Daddy mir die Tür öffnete, um mir mitzuteilen, er wisse nicht, wann Fief zurückkäme. Sie waren meine Freunde, aber ich war etwas anderes. Ich verkörperte »Ich brauche einen Platz zum Schlafen, hast du noch was zu essen übrig? Stört es dich, wenn ich bei dir dusche? Könntest du mir noch mit diesem und jenem aushelfen?« So etwas war ich, und ich konnte diese Person nicht ausstehen.
    Zudem war dieser Zustand beängstigend, denn sosehr mir meine Freunde, meine neue Familie, auch halfen, musste ich mich trotzdem fragen: Wann würden sie damit aufhören? Ab welchem Punkt würde ich ihnen zu viel werden? Wann würden sie damit anfangen, Nein zu sagen? Es konnte nicht ewig so weitergehen. Und nur schon der Gedanke daran, eines Tages in einer Notsituation von meinen Freunden abgelehnt zu werden, zu hören und zu sehen, wie sie mir in meiner Verzweiflung den Rücken kehrten –, also allein schon der Gedanke an diese Zurückweisung war nicht auszuhalten. Mir graute es vor diesem Nein, spürte ich doch, wie es in den Bereich des Möglichen rückte. Wie fühlt er sich an, dieser Moment, in dem dich jemand, den du liebst, im Stich lässt? Ich wollte es nicht herausfinden. Also beschloss ich, ihre Unterstützung nicht mehr länger zu beanspruchen. Mein Verhalten ließ sich sicher nicht sofort ändern, und es würde sicherlich eine Weile dauern, aber ich traf die Entscheidung, nie wieder so hilfsbedürftig wie jetzt zu sein.

    Und dann bescherte mir diese ausweglose Situation, in der ich mit dem Rücken zur Wand stand, noch einen weiteren

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