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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Schule zu gehen, nachdem sie schon einen Highschoolabschluss gemacht hatten? Warum würde irgendwer freiwillig vier zusätzliche Jahre die Schulbank drücken? Das Hauptaugenmerk der Leute auf unserer Seite der Wand lag darauf, unsere dringlichsten und unmittelbarsten Bedürfnisse zu befriedigen. Wir peilten nicht so etwas Hochtrabendes wie eine langfristige Zukunftsplanung an. Sicherlich gab es für uns auch immer die Möglichkeit, irgendwann einmal ein besseres Leben zu leben, aber gerade jetzt mussten wir uns um Naheliegendes kümmern.
    Das Betreten dieser Schulen kam einem Erklimmen der Wand gleich und einem Besuch auf der anderen Seite, und Bewerbungsgespräche mit Lehrern bedeuteten immer, mit einem von »diesen Leuten« zu reden. Diese ganze Prozedur war mein allererster Versuch, mein Leben in einen größeren Zusammenhang zu stellen und nicht bloß meine augenblicklichen Bedürfnisse zu befriedigen, und genau das fühlte sich riskant und unzulässig an. Ich war mit diesen gewaltigen, seriös aussehenden Gebäuden nicht vertraut, ihr Anblick wirkte abweisend auf mich, und ihr Versprechen des sozialen Aufstiegs schien somit für mich unerreichbar. Die Schulen hätten genauso gut Bürotürme für Börsenmakler an der Wall Street sein können oder das Geschäft eines Luxusjuweliers auf der Fifth Avenue oder sogar das Weiße Haus – das Betreten dieser Schulgebäude erschien mir genauso lächerlich wie das Betreten all dieser anderen Orte, weil es bedeutete, sich Eintritt zu
»ihrer« Seite zu verschaffen. Ich musste meinen ganzen Mut aufbringen, um über die Schulschwellen zu gehen, und hatte dabei immer furchtbares Herzklopfen.
    Die Bewerbungsgespräche waren eine einzige Enttäuschung. Wenn jemand nicht wirklich zuhört, sieht er einen auf eine ganz bestimmte Art an. Es ist so etwas wie ein ausdrucksloses Anstarren, das mit viel überflüssigem Nicken einhergeht. Dazu kommt noch das »zahnlose Grinsen«, wie Daddy dieses falsche, fadenscheinige Lächeln nannte, das die Leute aufsetzen, wenn sie dich beschwichtigen wollen. Bevor das Gespräch überhaupt begann, wusste ich schon aufgrund der Art und Weise, wie manche Lehrer mich ansahen, dass die Antwort »Nein« lautete. Die Leute musterten mich von oben bis unten, vom Kopf bis zu den Zehen, sie betrachteten mich oberflächlich und geringschätzig: Gothic-Anhängerin und Schulschwänzerin bedeutete in ihren Augen gleich Ärger. Und dann folgten das zahnlose Grinsen und der ganze Mist: »Unsere Plätze sind begrenzt, vielen Dank für Ihre Bewerbung« und »Wenn sich etwas auftut, werden wir Sie zu Hause benachrichtigen«.
    Na ja, sie riefen mich bei Bobby an, dessen Adresse ich ihnen gegeben hatte. Aber nur, um mir zu sagen: » Nein , tut uns leid, dieses Semester sind wir leider voll … Wir würden Sie gern aufnehmen, aber in Anbetracht Ihrer begrenzten Anzahl an Punkten, müssen wir Ihnen leider absagen und einem anderen Anwärter eine Chance geben … Nein , tut uns leid, wir glauben nicht, dass es eine gute Entscheidung wäre.« Wer wollte schon jemanden aufnehmen, der alt genug für einen Abschluss war und nur schlechte Beurteilungen hatte, damit ich endlich meine Ausbildung an ihrer Schule beginnen konnte? Zumal ich stets den Blick zu Boden gerichtet hielt und aussah wie, na ja, wie ich eben aussah … Auf breiter Front lautete die Antwort klipp und klar – »Nein«.
    Die ersten paar Male traf es mich nicht so sehr, aber nach mehreren Absagen spürte ich genau, wie meine Entschlossenheit sank. Als ich eines sonnigen Nachmittags wieder einmal nach einem
»Nein« auf die Straße trat, marschierte ich wütend durch eine belebte Gegend und war kurz davor, mein Vorhaben hinzuschmeißen. Es wäre so einfach! Danny, Fief, Bobby oder Jamie – irgendwer – würde mich schon beherbergen, bis ich mir was Neues ausgedacht hätte. Und vielleicht könnte ich im Viertel nach Carlos suchen. Zu ihm könnte ich immer zurück. Ich setzte mich irgendwohin auf eine Stufe, um nachzudenken und meine Möglichkeiten abzuwägen.
    Ecke Lexington Avenue und 65th Street wimmelte es nur so von Leuten – Studenten vom Hunter College, Bürohengste auf dem Weg zu ihren Geschäftsessen, die lange Schlange vor dem Hotdog-Stand. Es war ungewöhnlich heiß für einen Nachmittag Anfang Mai mitten in Manhattan. Ich hatte nur Geld in der Tasche, um mir eine Fahrkarte zu meinem nächsten Bewerbungsgespräch zu kaufen, eine Schule namens Humanities Preparatory Academy , oder mit dem Zug

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