Als der Tag begann
öffneten gerade, die Angestellten schoben ratternd die Gitter hoch. Ein alter Mann fegte den Bürgersteig vor dem China-Restaurant unter Paiges Fenster. Als sie in der Ferne verschwand, kramte ich mein Tagebuch hervor und schlug die Seite mit der Telefonnummer auf. Ich warf die beiden Münzen in einer Telefonzelle ein, zögerte und legte wieder auf. Dann nahm ich den Hörer noch einmal in die Hand und begann langsam zu wählen. Ich musste noch zweimal von vorn beginnen, bevor ich es bis zum Ende schaffte, und dann atmete ich tief durch.
»Hallo. G-Guten Tag. Mein Name ist Liz Murray. Ich würde gern einen Termin ausmachen … Ja, äh, für ein Bewerbungsgespräch … für das kommende Semester.«
In den kommenden Wochen erkundigte und bewarb ich mich an so vielen Alternativschulen, wie ich nur finden konnte. Mein Bauchgefühl riet mir, mich auf Manhattan zu konzentrieren, wahrscheinlich weil Daddy Manhattan immer als den Ort anpries, an den es die Leute zieht, wenn sie etwas erreichen wollen. Es fühlte sich gut an, mit der U-Bahn Nummer 4 oder D zu den verschiedenen Haltestellen an der Ost- und Westseite der Stadt zu fahren. Ich zog dann meine schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt an und hatte meine Schultasche mit meinen gesamten Habseligkeiten auf dem Schoß. Im Zug saß ich neben Geschäftsleuten, die Zeitung lasen und zu Terminen unterwegs waren. Meine Ohrläppchen waren auf beiden Seiten rauf und runter gepierct, und meine fettigen Haare gingen mir bis zur Taille. Hinter den vorderen Strähnen verbarg ich mein Gesicht. Den Blick immer auf die Adressen geheftet, die ich in mein Tagebuch gekritzelt hatte, ging ich auf Seitenstraßen zu riesigen Gebäudekomplexen, glitt auf den Bürgersteigen zwischen wuseligen Menschenmengen hindurch,
bis ich die richtige Adresse der Schulen gefunden hatte, die ich aus Telefonzellen in der Bronx angerufen hatte. Manchmal ging ich vor dem Gebäude eine Weile auf und ab und atmete mehrmals tief durch, um mir Mut zum Hineingehen zu machen.
Das Betreten der Schulen verlangte mir alles ab. Ich wollte da nicht hinein. Jahrelang, vielleicht sogar mein ganzes bisheriges Leben, hatte es sich so angefühlt, als stünde da eine Ziegelwand mitten im Weg. Ich sah sie draußen vor dem Eingang förmlich vor mir aufragen. Auf der einen Seite der Wand war die Gesellschaft, und auf der anderen Seite standen ich, wir, die Leute von dort, wo ich herkam. Voneinander getrennt. Abgetrennt. In meinem Herzen war die Welt aufgeteilt in ein »wir« gegen »sie«, und jeder von denen hinter der Wand war gefühlsmäßig einer von »diesen Leuten«. Die ganz normalen Leute im Zug auf dem Weg zur Arbeit, die schlauen Schüler, die im Unterricht die Hand hoben und alle Antworten wussten, die intakten Familien, die Leute, die aufs College weiterzogen – sie alle gehörten für mich zu »diesen Leuten«. Und dann gab es noch die Leute wie uns: die Schulabbrecher, die Sozialfälle, die Schulschwänzer und die mit Disziplinproblemen. Anders. Und es gab ganz bestimmte Dinge, die uns hatten anders werden lassen.
Zum einen war der Lebensrhythmus für meine Familie und für die Leute aus unserer Nachbarschaft immer geprägt durch Hektik, ausgelöst durch momentane Bedürfnisse und zu begleichende Ausstände: Hunger, Miete, Heizung, Stromrechnung. Als Standard galt »gerade jetzt«, und den konnte man bei jedem Problem anlegen. Sozialhilfe taugte nichts für eine solide Lebensplanung, aber gerade jetzt waren Rechnungen fällig, deshalb musste der Scheck eingelöst werden. Ma und Daddy sollten sich besser nicht zudröhnen, aber gerade jetzt hatte Ma ihre Entzugserscheinungen und brauchte ihren Schuss. Ich sollte besser zur Schule gehen, aber gerade jetzt hatte ich keine sauberen Klamotten und war sowieso schon viel zu weit mit allem hinterher. Lebensmittel im Wert von fünfunddreißig Dollar würden uns vier nicht einen vollen
Monat lang ernähren, aber gerade jetzt könnte man es doch mal versuchen … Auf unserer Seite der Wand räumte man den Vorgängen oberste Priorität ein, die zur Lösung des dringendsten Problems beitrugen. Aus diesem Grund strotzten die Leben der Leute hinter der Wand nur so vor Rätseln.
Wie konnte es bloß sein, dass jeder dort so seltsame Dinge wie ein Sparkonto, ein Auto oder ein Haus hatte, das ihnen auch noch richtig gehörte? Wie genau stellten sie es an, einen Job zu kriegen und auch noch zu behalten? Und welche Überlegungen brachten die Leute dazu, vier weitere Jahre zur
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