Als der Tag begann
Händen hereinzuschneien.
»Schwein mit gebratenem Reis ohne Gemüse und Huhn mit Brokkoli ohne Brokkoli, genau wie du’s magst«, verkündete ich noch im Hausflur und hielt die Tüten hoch.
Er lächelte dieses verschmitzte Lächeln und presste einen Finger an die Lippen, bevor er mich in die warme, schwach beleuchtete Wohnung einließ. Paula, seine Mutter, genoss die letzten paar Stunden Schlaf vor ihrer Frühschicht im Krankenhaus. Seine grau getigerte Katze rumorte in der Küche im Mülleimer herum. Eine Zeichnung seiner kleinen Schwester, ein Schmetterling in Gelb und Lila, der über alle Ränder hinausgemalt war, hing mit einem Magnet an der Kühlschranktür.
Wir packten das Essen vor seinem Fernseher aus. Ein aufgenommener
Wrestlingkampf ging gerade seinem Ende zu. Neben dem Bildschirm hing ein gerahmtes Bild von Bobby und seiner Freundin Diane, auf dem sie sich bei einer Hochzeit leidenschaftlich küssten. Ihr seidiges schwarzes Haar fiel lang über ihre Schultern. Bobbys Mathematikhausaufgaben waren über den ganzen Futon verteilt: verschiedene Formeln und Winkel mit Schablonen, auf weißem Papier. Die Lösungen standen stets daneben. In einem richtigen Zuhause zu sitzen, statt mit Carlos in einem der heruntergekommenen Löcher dahinzuvegetieren, fühlte sich an wie die Rückkehr unter Lebende. Beim Anblick von Bobbys Unterlagen, seiner gesunden Ausstrahlung, seinem attraktiven Gesicht, seiner Beziehung, wurde mir klar, dass das ganze Ding – Gesellschaft, Wirklichkeit, Leben – ohne mich weitergegangen war, während ich in irgendeine krank machende Fantasiewelt abgedriftet war. In seiner Gesellschaft fühlte ich mich wie eine geisterhafte Erscheinung aus der Vorhölle.
»Also, Mann, wie ist es dir ergangen?«, fragte er.
»Wie meinst du das?«, hakte ich misstrauisch nach. In diesem Raum mit Einblicken in Bobbys geregeltes Leben hatte seine Frage etwas Rhetorisches an sich. Sah ich denn nicht so verwahrlost aus, wie ich mich fühlte? Meine Klamotten waren doch dreckig, meine Haare fettig und ungekämmt.
»Na ja, ich meine, keine Ahnung, wie geht’s dir? Ich weiß, das mit deiner Ma und so war eine harte Zeit. Für mich auch, Liz … dass man dich nicht mal kontaktieren konnte! Ich wollte für dich da sein und dir helfen. Also habe ich mich wieder mal gerade gefragt, wie’s dir denn wohl so geht.« Seine aus dem Gesicht gekämmten Haare waren noch feucht vom Duschen, und seine Augen blickten mich ernst und voller Sorge an. Nach den Erlebnissen im Motel fiel es mir schwer, nicht ständig in die Defensive zu gehen. Ich musste mich immer wieder daran erinnern, dass ich es hier nicht mit Carlos zu tun hatte und dass es freundliche, zurechnungsfähige Menschen auf dieser Welt gab.
»Tut mir leid … ich bin einfach müde.« Ich blickte zu Boden
und versuchte, mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. »Es war ziemlich viel los in vielerlei Hinsicht. Aber ich glaube, man könnte sagen, dass ich okay bin.«
»Okay? Das ist alles?«, hakte er nach, während er sich einen Löffel Reis in den Mund schob. Seine Neugier war echt. Ich sah ihn an, entspannte mich und erinnerte mich daran, dass ich tatsächlich Freunde hatte, die mich wirklich liebten. Bei Bobby war ich in Sicherheit.
»Ja … also im Moment ist das erst mal alles. Ich bin okay.« Und es stimmte auch. Carlos loszulassen war eine Befreiung gewesen und hatte mich aus einer Art Dämmerschlaf gerissen. Ich war ungewöhnlich fröhlich.
»Jetzt erzähl du mal, wie es dir ergangen ist.«
Zur Untermalung unseres Essens spulte Bobby seine alte VHS-Kassette mit den Wrestlingshows zurück und hielt immer wieder an, um mir die genauen Bezeichnungen der Griffe beizubringen: Razors Edge, The Tombstone, Elbow Drop. Aber mein Blick blieb immer wieder an seinen auf dem Futon verteilten Matheaufgaben hängen. Seine schwungvolle und kräftige Handschrift wirkte selbstsicher.
»… das hier sind die wichtigsten Typen«, sagte er und hob nachdrücklich die Hände. »Aber bei den EWC, den extremen Wettkämpfen, na ja, da geht es erst richtig zur Sache. Und wenn’s dann wirklich gewalttätig wird …«
»Bobby«, unterbrach ich ihn, »wie ist das so auf der Highschool? «
Die restlichen Nächte der Woche verbrachte ich um die Ecke bei Fief. Danach zog ich von einem Ort zum anderen. Es war schwierig, mal eine Nacht durchzuschlafen, weil ich oft erst in die Wohnungen eingelassen wurde, wenn die Eltern im Bett waren, und wieder hinausmusste, bevor sie
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