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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Hundehalsband, mit silbernen Stacheln verziert, das ich stolz zur Schau stellte. Unsere Klamotten waren zerrissen und von Löchern durchbrochen, was absolut »cool« war. Und dann hat es sich einfach so ergeben, dass ich an einem der
Tage, als ich in Mrs Nedgrins Klassenzimmer spazierte, an einem Sozialkundetest teilnahm und bestand. Das ist der Grund, warum ich einen Highschoolpunkt erhielt. Na ja, das und das Mitleid, das Mrs Nedgrin mit mir hatte.
    Ohne aktive Teilnahme am Unterricht erreichte ich bei dem Test einundachtzig von hundert Prozent, und dieses Ergebnis weckte ihre Neugier so weit, dass sie mich eines Tages im Flur abpasste und mich eindringlich bat, wieder in die Schule zu kommen. »Du bist ein intelligentes Mädchen«, sagte sie, »ich habe deine Akte gelesen … Deine Mutter ist krank, nicht wahr? Bist du schon mal ins Heim gekommen?« Ihre Augen waren feucht und blickten mich verständnisvoll an.
    »Ja«, war alles, was ich hervorbrachte. Ich wich ihrem Blick aus.
    Mein ganzes Leben lang hatten Lehrer so reagiert, als würden sie mich bedauern. Diese Damen aus Westchester mit ihren Perlenketten besahen sich mein Leben, und der Einblick stimmte sie traurig. Und überhaupt, wenn sie mich für schlau hielt, dann irrte sie sich gewaltig. Der einzige Grund, weswegen ich den Sozialkundetest bestanden hatte, war, dass ich eins von Daddys Büchern über dasselbe Thema, den Bürgerkrieg, gelesen hatte. Und ihre Prüfungsfragen waren supereinfach gewesen. Ehrlich, was ich da abgeliefert hatte, war weit weniger beeindruckend, als sie glaubte. Und warum fing sie nun schier zu weinen an? Da stand sie in ihrem schicken königsblauen Kleidchen, das nur gereinigt werden durfte, und wischte sich die Tränen aus ihren sorgenvollen Augen. Sie umarmte mich und sprach ein paar Worte aus, an denen ich mich noch jahrelang festhalten sollte. »Ich verstehe, warum du nicht zur Schule kommst, und es ist nicht deine Schuld. Du bist ein Opfer der ganzen Umstände, und das verstehe ich, Liebes. Es ist in Ordnung.«
    Trotz der guten Absichten von Mrs Nedgrin hörte ich aus ihrer Rede nur eine Sache heraus, und zwar die, dass ich meine Hausaufgaben nicht machen musste, aus Gründen, an denen ich keine Schuld trug. Ich war ein »Opfer«. Sie verstand das. Na ja, ich hatte eh keine Lust auf meine Hausaufgaben, lief doch prima.

    Das war mein letzter Besuch an der Kennedy High School , und als mein Jahreszeugnis bei Brick in der Post lag, stand es dort schwarz auf weiß: eine Reihe Fs für »nicht ausreichend« und eine einziges D für »unterdurchschnittlich«, mit dem ich weiterkam. Ich war im selben Alter wie jemand, der sich darauf vorbereitet, aufs College zu gehen, und das hier stellte also bis jetzt meine gesamte Schulbildung dar – ein einziger Punkt, vergeben aus Mitleid.
    Im Licht von Paiges Lampe malte ich mit meinem Stift die Telefonnummer und die Adresse im Tagebuch weiter aus, gemeinsam mit dem Wort Alternativhighschool .
    Als ich am nächsten Morgen aufwachte, stakste Paige über alle hinweg, die auf dem Boden ausgestreckt schliefen und vor sich hinschnarchten. Sie trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck BLOCK-BUSTER VIDEO, das sie fein säuberlich in ihre Kakihose gesteckt hatte; ihre Haare waren zu einem festen Knoten hochgesteckt. Sie suchte nach ihren Schlüsseln. Ich beobachtete sie einen Moment lang still, wie sie, die Einzige unter uns, die etwas leistete, zwischen all diesen schlafenden Menschen umherging. In diesem Moment bewunderte ich sie dafür, wie sie Dinge einfach anpackte. Aus dem Augenwinkel heraus entdeckte ich ihren grell orangefarbenen Garfield-Schlüsselanhänger, der halb verdeckt unter einer Zeitschrift lag.
    Ich setzte mich auf und griff danach. »Warte, Paige«, flüsterte ich, »ich gehe mit dir mit.«
    Nachdem sie mir zugenickt hatte, sammelte ich zwei Quarter auf dem Kühlschrank ein, zog meine Jeans über eine von Carlos’ Boxershorts, die ich zum Schlafen angehabt hatte, und beeilte mich, Paige zur Tür hinaus zu folgen. Die Morgensonne tat meinen Augen weh. Mittlerweile waren Monate vergangen, seit ich aus dem Motel weggegangen war, und das Wetter wurde besser. Die Bäume schlugen aus und bekamen kleine grüne Blätter, und die Vögel waren unterwegs. Ich warf mir meine Jacke über die
Schulter. Paige hatte ihre Kopfhörer auf und summte ein Lied mit, und sie duftete stark nach einer fruchtigen Lotion, als ich sie zum Abschied umarmte.
    Wir trennten uns bei ihr um die Ecke. Die Läden

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