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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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zurück in die Bronx zu fahren, das dauerte ungefähr eine Stunde, und mir trotzdem noch ein Stück Pizza zu leisten. Beides aber ging nicht. Ich saß vor dem College und beobachtete ein paar Leute.
    Pizza oder Bewerbungsgespräch?
    Ich hatte es so satt – die Konversationen, die Zurückweisungen, ständig ein »Nein« zu hören. Was sollte das Ganze überhaupt? Wenn ich jetzt aufhörte, könnte ich wenigstens etwas gegen meinen Hunger unternehmen. Realistisch betrachtet, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ich nur meine Zeit vergeudete.
    Und dann kam mir noch anderes in den Sinn. Na ja, und wenn doch …? Wahrscheinlich war diese Schule genau wie all die anderen, aber was wäre, wenn die Antwort diesmal nicht negativ ausfallen würde? Der Gedanke kam aus heiterem Himmel, und er gefiel mir ausgesprochen gut. Was wäre, wenn, ungeachtet aller Beweise, die besagten, es würde nicht klappen, was wäre, wenn diese eine nächste Schule mich aufnehmen würde?
    Mir ging das Herz auf, und es lief über vor Gefühlen, die mich plötzlich Ma so sehr vermissen ließen. Ich fühlte mich einsam auf
diesem Bürgersteig, zwischen all diesen Menschen. Meine Gedanken rasten hin und her. Es kam mir kurz vor, als hätte ich ein Zuhause, eine Familie, ein Dach über dem Kopf und geliebte Menschen, die mir halfen, mich in der Welt zurechtzufinden. Und dann saß ich wieder auf der 65th Street, und Ma war tot, Daddy weg, und Lisa und ich waren getrennt. Alles war anders.
    So ist das im Leben: In der einen Minute hat alles Sinn, in der nächsten verändern sich die Dinge grundlegend. Menschen werden krank, Familien brechen auseinander, Freunde schlagen dir die Tür vor der Nase zu. Die rasanten Umschwünge, die ich erlebt hatte, trafen mich schwer, als ich dort auf der Straße saß, und dennoch war es nicht Traurigkeit, die aus meinem Bauch aufstieg. Aus dem Nichts schlich sich stattdessen ein anderes Gefühl an: Hoffnung. Wenn das Leben sich zum Schlechten hin verändern konnte, dachte ich, dann konnte es sich vielleicht auch verbessern.
    Es bestand die Möglichkeit, dass ich an der nächsten Schule angenommen würde, und es bestand die Möglichkeit, dass ich nur beste Noten schreiben würde. Zugegeben, aufgrund dessen, was vorher alles passiert war, war der Gedanke nicht unbedingt realistisch, aber es bestand immerhin die Möglichkeit, dass ich alles ändern könnte.
    Die Sache mit der Pizza hatte sich erledigt – ich ging zu meinem Bewerbungsgespräch.
    Mitte der Neunziger befand sich die Bayard Rustin High School for the Humanities in Schwierigkeiten. Das Problem war eine gravierende Überbelegung: Zweitausendvierhundert Schüler waren an der Schule eingeschrieben, die für eintausendfünfhundert ausgelegt war. So gab es in den überfüllten Klassen jede Menge Kinder, deren Leistungen rapide nachließen und die schließlich durchfielen. Bei den Lehrern ging die Moral den Bach hinunter, und Zynismus hatte Hochkonjunktur. Eine Handvoll Lehrer, die in einem Entscheidungsgremium der Schule saßen, schlug eine extreme Lösung des Problems vor: Man müsse die scheiternden Kinder von
den erfolgreichen trennen und ihnen im Unterricht nur das allernötigste Grundwissen vermitteln; dies solle den Lehrern den Anreiz schaffen, weniger Klassen zu haben. Anschließend sorge man dafür, dass sie ab mittags aus dem Schulgebäude verschwinden. Hinter den Kulissen gaben ein paar Lehrer dem Projekt den Spitznamen »Versager-Akademie«.
    Die Institution selbst wäre klein, eine separate Schule, untergebracht in dem hintersten Winkel des Gebäudekomplexes innerhalb der viel größeren High School for the Humanities auf der 18th Street, zwischen der 8th und 9th Avenue in Chelsea. Laut Planung würde sie die Schüler auffangen, die ihre Laufbahn so sehr vermasselten, dass sie innerhalb der gewöhnlichen Schulstruktur als Störfaktor galten. Dahinter stand die Überlegung, dass sich der Hauptzweig der Schule mithilfe dieses Programms auf die Erziehung der Kinder konzentrieren konnte, die tatsächlich am Unterricht teilnahmen, während die Schüler der »Versager-Akademie«, von denen sowieso niemand allzu viel erwartete, regelrecht abgeschoben wurden. Und genauso wäre es für die Schule gelaufen, wäre da nicht Perry Weiner.
    Perry, Vorsitzender des Gremiums und seit Jahren passionierter Englischlehrer, zeigte sich vollkommen entrüstet über den Vorschlag, die Schüler nach Leistungen zu trennen. Er forderte das Lehrerkomitee stattdessen auf, eine

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