Als der Tag begann
verunsicherte mich, machte ihn aber auch interessant. Er schien anders zu sein. Gäbe es ein Foto von dem Tag, an dem ich Perry Weiner begegnete, dann wäre es eine perfekte Studie an Gegensätzlichkeit: Gothic-Fan trifft auf gut gelaunten Mann, der umgeben von Shakespeare-Stücken auf seinem Schreibtisch offensichtlich in einer Bibliothek lebt.
»Also… eigentlich nur Liz. Nennen Sie mich Liz. Bitte, geben Sie mir die Chance, mit Ihnen zu reden. Die Verspätung tut mir wirklich leid.«
Vor lauter Nervosität waren meine Handflächen schweißnass. Ich war nicht besonders gut in diesen Dingen und hatte immer das Gefühl, keine Erlaubnis zu besitzen, mit Autoritätspersonen reden zu dürfen, niemals. Die Lehrer mussten das bei den Bewerbungsgesprächen bemerkt haben, und ich fragte mich, wie dieser Typ darauf reagieren würde. Ich meine, wie muss ich auf ihn gewirkt haben? Eine schäbige Obdachlose. Ein ungewaschenes Mädchen mit Läusen, eine Schulschwänzerin und Diebin, unpünktlich, verantwortungslos.
»Sieh mal, Liz«, sagte er, ohne seinen Blick von mir abzuwenden, »ich würde dich wahnsinnig gern zu einem Gespräch einladen, aber ich muss in zehn Minuten zum Unterricht, außerdem gehört zur Bewerbung auch ein Aufsatz. Es dauert einfach zu lange. Ich fürchte, du musst einen neuen Termin vereinbaren.«
Ich hielt meinen fertigen Aufsatz in die Höhe. »Schon erledigt«, sagte ich. »Ich hab ihn schon fertig.«
Er wirkte überrascht, schielte auf die Seiten und nahm sie schließlich aus meiner Hand, um sie durchzusehen.
»Können Sie mich bitte kurz anhören?«, drängelte ich.
Er gab wieder dieses fröhliche Lachen von sich, ging ein paar Schritte zurück in sein Büro und hielt mir die Tür auf. Er ist auch nur ein Mensch , beruhigte ich mich beim Hinsetzen.
»Ich weiß«, begann ich, »meine Akte sieht schlimm aus …«
Ich wollte dieses Gespräch kontrollieren, die Richtung vorgeben, mich verteidigen, bevor er mich beurteilen konnte. Nur konnte ich während meines Vortrags an seinem Gesichtsausdruck – der empathisch und interessiert war – erkennen, dass er mich überhaupt nicht zu bewerten schien. Perry hörte einfach zu. Er war aufrichtig bei der Sache, sein Gesicht verriet ihn. Ein Gefühl von Vertrauen wuchs in mir, während wir uns in diesen Minuten unterhielten, und deshalb erzählte ich ihm spontan alles. Alles, außer dass ich obdachlos war. Ich wollte nicht wieder ins Heim, und ich wusste, dass es Perrys Pflicht wäre, mich zu melden, sobald er wusste, dass ich kein Dach über dem Kopf hatte. Also behielt ich dieses eine Detail für mich und teilte alles andere mit ihm.
»Und da ist meine Freundin Sam, mit der ich oft Schule geschwänzt habe, damit ich, keine Ahnung, Abstand gewann. Na ja, ich wollte immer einen Abschluss machen. Wirklich. Aber dann vergingen die Jahre, und irgendwie ist mir alles entglitten.«
Es strömte nur so aus mir heraus. Vor ihm ließ ich mehr Gefühle zu als vor den anderen Lehrern, die mich während der letzten Wochen angehört und abgewiesen hatten, mehr Gefühle, als es mir lieb war. Ich konnte nicht anders. Es fühlte sich seltsam an, mit einem Lehrer zusammenzusitzen, der so bei der Sache war wie er, und zwar ohne jegliches Mitleid. Er hörte durchgehend aufmerksam zu, stellte klärende Fragen, zeigte sich verständnisvoll und identifizierte sich sogar mit mir, als er bei der Beerdigung meiner Mutter hörbar seufzte. Doch während ich mir selbst zuhörte, begann ich plötzlich, mich selbst zu beurteilen. Ich fühlte mich als Problemfall, gerade einem so sachkundigen Menschen wie ihm gegenüber – er sah so normal aus. Ich ließ meinen Blick unauffällig durchs Zimmer schweifen, von Perrys Computer zurück zu seinen geputzten braunen Lederschuhen und dann zu meinen zerschlissenen Stiefeln für zehn Dollar.
»Liz«, schaltete er sich mit düsterer Miene ein. Er klang auf einmal sehr ernst. »Das alles ist … grauenhaft . Es klingt, als hättest du
eine Menge durchgemacht, und ich will dir wirklich helfen. Aber ich will auch sichergehen, dass ich dir auf die richtige Art und Weise helfe, verstehst du das?« Ich weiß nicht, wie ich darauf kam, er wolle das Jugendamt anrufen. Meine Augen erfassten den kürzesten Fluchtweg: Ich war schneller als er, und der Zug nach Bedford war nur fünf Blocks entfernt. »Was ich damit sagen will, Liz, ist, dass ich auf deinem Bewerbungsformular sehe, dass du bald siebzehn wirst und dabei über keine wie auch immer
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