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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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versagt hatte, so lautete seine Überzeugung, dann benötigten diese Jugendlichen eine andere Variante, um Erfolg zu haben. Und hier würden sie sie finden. An diesem Ort betrachtete man die Schüler nicht als Problemfälle. »Durchzufallen«, wie es im normalen Schulsystem üblich ist, war in keinem Stadium der Planung vorgesehen. Die Prep war absichtlich so angelegt, dass sie die Schüler in den Bereichen förderte, in denen deren Möglichkeiten lagen.

    Ich hechtete fünfzehn Minuten zu spät durch die Flügeltüren. Mir stand der Schweiß auf der Stirn, und der Knoten, den ich versucht hatte hochzustecken, löste sich in seine haarigen Bestandteile auf. Ich überprüfte noch einmal meinen Tagebucheintrag, um sicherzugehen, dass ich wirklich im richtigen Gebäude war. Die Räumlichkeiten waren klein, eher wie das Hinterstübchen einer richtigen Schule.
    Das große Hauptbüro bestand aus vier Arbeitsplätzen mit mannshohen Trennwänden, an die Archivschränke geschoben worden waren. Auf einem klebte noch der Transportaufkleber mit der Schuladresse. Auf einem Bücherregal, auf dem kreuz und quer gebrauchte Bücher standen, surrte ein Ventilator. Die Sekretärin, eine Afroamerikanerin mit schönen Augen, hieß April und wies mich an, gegenüber von ihrem Schreibtisch Platz zu nehmen.
    »Du bist zu spät dran. Sie haben ohne dich angefangen«, sagte sie mit schief gelegtem Kopf. An ihrem Hals, ihren Handgelenken und ihren Ohren baumelte jede Menge Goldschmuck. »Du brauchst dir keine Sorgen machen, Perry kommt gleich, und dann kannst du mit ihm reden.«
    Ich blickte zu dem letzten Arbeitsplatz hin, ganz hinten links, und sah durch eine Glasscheibe eine Tafel, auf der der Satz stand:
    Wählen Sie eines der folgenden Themen aus und schreiben
Sie einen Aufsatz über seine Bedeutung:
Verschiedenartigkeit
Gemeinschaft
Führungsstärke
    Ein Mann in mittleren Jahren mit Ziegenbart und Brille leitete eine Diskussion, die durch die Trennwand fast ohne Ton ablief. Er trug dunkle Kordhosen und eine kastanienbraune Krawatte. Das Erste, was mir an ihm auffiel, war, dass er viel lachte oder lächelte. Er sah einfach freundlich aus. Fünf, sechs junge Leute saßen im Halbkreis um ihn herum, hörten ihm zu und beantworteten nacheinander
ausführlich seine Fragen. Ich holte meinen Stift hervor und machte mich daran, den Aufsatz zu schreiben. Zu »Gemeinschaft« oder »Führungsstärke« fiel mir nichts ein, also wählte ich »Verschiedenartigkeit« aus, weil ich mich an die Diskriminierung erinnerte, der ich an meiner alten Schule ausgesetzt gewesen war.
    Drei Seiten lang gab ich anhand von Beispielen wieder, wie die Leute mir Dinge unterstellten, basierend auf meinem Erscheinungsbild, meiner Rasse oder meinem verwahrlosten Zustand. Jahrelang hatten sie mich auf der University Avenue blanquita gerufen, kleines weißes Mädchen. »Du musst reich sein, weißes Mädchen, eingebildete Kuh«, zischten sie mir hinterher, als ich durch die Flure der Junior High School 141 ging. Ich beschrieb auch, wie ich wegen meiner Klamotten im Gothic-Stil bei meinen vorherigen Highschoolbewerbungen angestarrt worden war. Detailliert reflektierte ich meine Wut, wann immer ich genau gespürt hatte, dass mich ein Lehrer ablehnte, bevor er mir überhaupt zugehört hatte. Mit schlampiger Handschrift verfasste ich lange Absätze. Dann las ich alles noch mal durch und fand, einen schlüssigen Standpunkt zum Thema Verschiedenartigkeit und Diskriminierung formuliert zu haben. Es war meine erste schriftliche Arbeit seit Jahren. Ich kaute auf meinem Stift herum. Das Treffen, an dem ich hätte teilnehmen sollen, war plötzlich zu Ende.
    Der Lehrer kam heraus und hastete an mir vorbei. Ich musste ihn aufhalten.
    »S-sir«, stammelte ich. »Sir.« Er drehte sich zu mir um und lächelte.
    »Hallo«, sagte er und streckte mir seine Hand entgegen. »Perry. « Er beendete seine Begrüßung mit einem Lachen und sah mir direkt in die Augen. Ich blickte weg. Er war eindeutig einer von »diesen Leuten« auf der anderen Seite der Wand. Auf die Intensität seines Blicks war ich nicht gefasst, und sie verursachte mir Herzklopfen. Ich wich vor seiner ausgestreckten Hand zurück, starrte sie viel zu lange an, und erst im allerletzten Moment ergriff ich sie, um sie zu schütteln.

    »Hi, ich hatte auch einen Termin für das Treffen.«
    »Elizabeth …«, er hielt einen Notizblock hoch, »Murray. Was ist passiert?« Aufmerksam sah er mich durch seine Brille an. Seine Anteilnahme

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