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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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wie das Innere meiner Wangen. Ich betrachtete mich im Spiegel, rieb nach Vanille duftendes Shampoo in meine trockenen Hände und verteilte sorgfältig winzige Mengen davon mit den Fingerspitzen überall in meinem Haar: als Vorbereitung auf unsere kommende Schmuserei.

    Prüfend betrachtete ich mein Spiegelbild: Mein gewelltes braun-lilafarbenes Haar ging mir bis zur Taille. Ich hoffte, es gefiel Ken. Ich trug kein Make-up, und ich hasste es, wie sehr mein Gesicht verriet, dass ich zu wenig Schlaf bekam – ein paar Stunden hier und da auf den Sofas meiner Freunde oder in Treppenhäusern. An beiden Ohren befanden sich vier dünne silberne Ringe, und meine Augenbrauen waren dicker, als ich sie haben wollte. Meine Schlafhose war eine Jogginghose, verziert mit einem auf den Oberschenkel gestickten Totenkopf. Darunter trug ich eine von Carlos’alten Boxershorts. Kens Mutter hatte mir für die Nacht ein drei Nummern zu großes T-Shirt von Ken geliehen.
    Der ganze Abend verlief für mich wie ein erster Abend in einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht verstand. Wir lungerten im Keller im Kreis auf dem Boden herum, mit Schlafsäcken als Unterlage, um uns Geschichten zu erzählen. Kat, Anna, Steven, Jeremy und Ken redeten über Dinge, die mir völlig unbekannt waren. »Reiche Leute«, hätte Daddy sie abfällig genannt. Ich weiß nicht, ob sie reich waren, aber mir wurde sehr schnell klar, dass sie anders waren als ich. Denn auf gar keinen Fall unterhielten wir uns im Getto über verschiedene Käsesorten.
    Nein, Sir, wir lassen uns nicht endlos über die Unterschiede von Brie, Havarti und Gorgonzola aus. Im Getto kaufen wir eine Sorte Käse, und zwar amerikanischen. Den kriegen wir, wenn wir den Verkäufer um »einen Dollar Schinken und einen Dollar Käse« bitten, eingewickelt in dickes Wachspapier und ausgehändigt an dem Tag, an dem der Scheck von der Regierung eingelöst wurde. Und im Getto reden wir auch nicht über Rucksackreisen durch Europa (wo immer Europa überhaupt liegt).
    Allerdings reden wir dort viel über unser Viertel und die angrenzenden Viertel. »Habt ihr von der Schießerei auf der Grand Avenue gehört? Milkshake hat’s erwischt! Mausetot ist der! « »Mann, auf der Andrews Avenue verkauft Mrs Olga tatsächlich wieder Wassereis! Und zwar einen Dollar billiger als bei Mrs Lulu! Gibt auch Kokosnussgeschmack!« Andere Länder und andere Sitten
wurden bei uns zu Hause nie diskutiert. Eigentlich hatte alles außerhalb unseres eigenen Viertels und der Viertel um uns herum nur vage Konturen. Als Ken uns erzählte, dass er letzten Sommer einen Weg gefunden hatte, mit einer Jugendgruppe nach Kuba zu reisen, fragte ich: »Warum, ist es denn so schwierig, dort hinzukommen? «
    »Na ja, angesichts des Embargos und so … «, sagte er und nickte. Ich grinste dümmlich, als hätte ich ihn irgendwie falsch verstanden. Mein Herz hämmerte in meiner Brust. Embargo? Wahrscheinlich lernte man das in der Highschool. Ich hasste dieses Gefühl, eigentlich etwas wissen zu müssen, es aber nicht zu tun. Manchmal war es einfacher, nichts zu sagen.
    Und dann gab es die Themen rund ums College. Jeder von ihnen verglich Campus, Studentenwohnheime, Professoren und Aufbaustudiengänge, und sie benutzten dafür Wörter wie Stipendium, Doktorarbeit und Kanzler. Was genau war ein Aufbaustudiengang? War das ein Kurs am College? Ich machte ein möglichst gleichgültiges Gesicht, nach dem Motto: »Ich weiß, wovon ihr redet. « Und auch wenn ich nicht alles kapierte, was sie da von sich gaben, begann ich mich trotzdem immer mehr fürs College zu interessieren. Ihre Begeisterung tat ein Übriges, aber vor allem fesselte mich das Zugehörigkeitsgefühl, das sie miteinander verband. Die Art, wie das College dafür zu sorgen schien, dass man sich in eine Gruppe von Leuten einfügte, die man noch nie zuvor getroffen hatte, und wie es für Gesprächsstoff sorgte. Und mit einem Mal fragte ich mich: Könnte ich aufs College gehen? Selbst wenn ich nicht wusste, wo Europa lag oder was der Unterschied zwischen einem Brie und einem Havarti war, könnte ich trotzdem haben, was sie hatten? Ma hatte die Schule nach der achten Klasse verlassen, und Daddy hatte sein Studium abgebrochen. Aber ich – könnte ich aufs College gehen?
    »Will noch jemand was trinken?«, fragte Ken und berührte unnötigerweise meinen Unterarm. Mein Herz raste schon wieder los, und ich lief rot an. »Nein danke, ich brauche nichts.«

    »Also gut.« Er lächelte mir

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