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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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klingen wollte. Mein Gesicht lief vor Peinlichkeit knallrot an.
    »Danke«, sagte Ken mit einem ernst gemeinten Lächeln. Er wurde auch ein bisschen rot, lag er doch auch mit seinem Rap im Clinch und lachte nun über sich selbst. Obwohl ich es versuchte, konnte ich einfach nicht aufhören, in seine Richtung zu sehen.
    Shen teilte das Gelände, abhängig von seiner Einschätzung unseres Verdienstpotenzials, unter uns auf (will heißen, er wies uns im Vorfeld verteilte Straßenzüge zu). Weniger geübte Akquisiteure wurden auf »ausgedörrtes« Gelände geschickt, in Gegenden mit heruntergekommenen Häusern, deren jährliches Budget für Renovierungen beschränkt war. Geübtere Mitarbeiter bekamen die größeren Häuser zugeteilt, die wie reinste Schlösser aussahen, mit satten Rasenflächen in Golfplatzgrün, gestalterisch akzentuiert durch Accessoires wie Springbrunnen und gegossene Jockeyfiguren für den Garten. Man brauchte bei diesen Anwesen vom Einfahrtstor bis zur Türklingel nicht weniger als fünf Minuten.
    An jenem allerersten Tag wies man mir »ausgedörrtes« Gelände zu und stufte damit mein Verdienstpotenzial als niedrig ein. Sie gaben mir eine Straße, die schier auseinanderfiel, mit rostigem Maschendrahtzaun um verlotterte Vorgärten. Das Soll lag bei hundertzwanzig Dollar pro Tag – viel Glück! Aber zu Shens Überraschung hatte ich um neun Uhr abends, als der Bus kam, um
mich aufzugabeln, zweihundertvierzig Dollar gesammelt. Ordentlich aufgereihte Schecks waren am oberen Rand meines Klemmbretts befestigt, und ihre Rückseiten mit den Wasserzeichen warfen einen pastellfarbenen Regenbogen auf den Chromclip.
    »Ist das gut genug?«, fragte ich den Gebietsleiter, als ich mein Klemmbrett in das orangefarbene Bremslicht des Busses hielt. Der Sommerhimmel verfärbte sich dunkelblau, als wir dort unter schweren Baumkronen standen.
    Er las meine Gesamtsumme einmal, dann noch einmal und sagte schließlich: »Ja, großartig.« Danach wurde ich den Wohngegenden mit vermögenden Hausbesitzern zugeteilt, wo mein Erlös täglich anstieg, manchmal bis über siebenhundert Dollar an einem Abend.
    Bei der NYPIRG war die Aussicht auf einen derartigen Erfolg meinerseits als höchst unwahrscheinlich abgestempelt worden, da selbst die eloquentesten und kommunikativsten Typen ins Straucheln gerieten, wenn ihnen eine Tür zu viel vor der Nase zugeschlagen wurde. Niemand hatte behauptet, dass es leicht verdientes Geld war. Mutmaßliche Erklärungen für mein Gelingen bahnten sich ihren Weg durch das Büro. »Liz kämpft mit Leidenschaft für die Umwelt«, »Sie bekam das meiste Training« und »Wahrscheinlich hatte sie schon vorher Erfahrung damit.«
    Nichts davon stimmte, noch hatte mein Erfolg irgendetwas mit Fähigkeiten zu tun. Der Grund für meine guten Ergebnisse war ein ganz einfacher: Ich hatte Hunger, und für mich war das hier kein Sommerurlaub. Anders als meine Mitstreiter, die sich auf Wochenendausflüge und Lokalbesuche freuten, legte ich Vorräte für den Winter an, nach dem Motto »Vogel, friss oder stirb«. Ich brauchte das Geld. Ich hatte die Absicht, jeden Dollar zu sparen, damit ich die kommenden Monate überstehen könnte, wenn mich mein Stundenplan vielleicht daran hinderte zu arbeiten. Zum ersten Mal stellte ich meinen Alltag in den Dienst einer größeren Sache: Ich wollte von da weg, wo ich herkam. Das war es, was mich antrieb.

    Und es gab da noch eine andere Art von Hunger in mir, eine, die ich selbst nicht genau ausmachen konnte. Dieser Hunger hatte etwas damit zu tun, wie neu sich das alles anfühlte, mit dem Kick, den ich bekam, wenn ich diese neuen Orte aufsuchte. Nie zuvor hatte ich so große Häuser mit Autos gesehen, die in endlosen Kiesauffahrten parkten, oder Kinder, wie sie mit dem Fahrrad ihre Runden auf baumgesäumten Wegen drehten. Die Art und Weise, wie Hausfrauen mir die Haustür öffneten und dabei so seriös aussahen, mit Kindern im Arm, die auf den robusten Hüften ihrer Mütter Halt fanden. Ich genoss das Sirren der Klimaanlage, das aus ihren Häusern kam, meine Wangen und Unterarme kühlte, während ich das Klemmbrett festhielt, die Schultasche mit all meinen Habseligkeiten auf dem Rücken, und kurze Blicke auf ihre Leben erhaschte. Es war aufregend zu sehen, wie sich Leute ein Leben aufgebaut hatten, das so anders war als das, was ich kannte. Sehnsüchtig wollte ich dasselbe tun; es feuerte mich geradezu an. Das Ganze hatte etwas von einem Abenteuer an sich, war wie ein Rausch

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