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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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gemeinsam durchgestanden hätten.
    »Lilah ist so was wie meine Komplizin. GHLF , das heißt Group Home for Life «, erzählte sie. »Vielleicht lass ich mir das eintätowieren. Vielleicht wir alle.«
    Ich kickte während unseres Spaziergangs einen kleinen Stein vor mir her und hielt den Blick gen Boden gesenkt.
    »Klingt gut«, sagte ich. Hatte ich mir unsere Verbundenheit nur eingebildet? Vermisste sie mich überhaupt? Ich jedenfalls vermisste sie. »Interessiert dich das mit der Schule, auf die ich gehen werde? «, fragte ich sie.

    »Klar«, antwortete Sam beiläufig und zuckte mit den Achseln, so als ob sie sich ruhig an einer Highschool einschreiben könnte, wenn sie schon mal einen Nachmittag freihätte. Sie begleitete mich und füllte eine Anmeldung für die Humanities Prep aus. April sagte ihr, sie würde bald Bescheid bekommen. Perry war nicht da, um Sam kennenzulernen, also gingen wir zurück zur Haltestelle, wo wir in unterschiedliche Richtungen losmussten. Sam kritzelte mir die Telefonnummer ihres Wohnheims in blauen Kringeln auf die Hand. Ihre Abschiedsumarmung war fest und fühlte sich liebevoll an. Da ist sie ja , dachte ich. Wir versprachen uns gegenseitig ein baldiges Wiedersehen, und ganz bestimmt würde sie es mich wissen lassen, wenn die Prep auf sie zukäme. Oder wenn sie und Oscar vorher einen Termin für die Hochzeit festlegten, dann würde sie mich deshalb natürlich auch sofort anrufen.
    Es regnete, als Kens Mutter in dem Familien-Minivan vorfuhr. Sie stellte sich als genauso blond wie ihr Sohn heraus, mit dem gleichen Kurzhaarschnitt, nur dass ihre blonden Haare einen Tick dunkler und mit grauen Strähnen durchzogen waren, die gut zu ihren kleinen Perlenohrringen passten. Sie fuhr Ken und seine fünf Mitstreiter von der Haltestelle der Linie A zu ihrem Haus am Strand in Far Rockaway. Der leichte Nieselregen ließ den nächtlichen Asphalt der ruhigen Vorstädte von Queens im Licht der Straßenlaternen schimmern. Ihre gebräunten Arme waren auf eine Art muskulös, die auf Sport und gesunde Ernährung hinwies. Ihre Kleidung – Cargo-Shorts und ein unvorstellbar weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt – war so sauber, dass sie vielleicht gerade erst von den Holzbügeln im Banana-Republic-Laden genommen worden war. Sie hielt eine lockere Unterhaltung am Laufen, fragte nach unseren Schulen und an was wir so Spaß hätten. Ich hielt mich, so gut es ging, im Hintergrund, gab vor, eine ganz normale Schülerin im Abschlussjahr der Highschool zu sein, die sich auf ihre Collegebewerbungen vorbereitete – aus Sorge, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen und meine Tarnung lüften zu müssen.

    An einer Ampel sah ich, wie sie ihre Hand ausstreckte und Ken lächelnd durchs Haar wuschelte und über die Stirn strich. Ihre sich ähnelnden Gesichter leuchteten im roten Licht rosafarben. Ich spürte, dass sie eine liebenswürdige Frau war. Man merkte es an der Art, wie sie sich zu ihrem Sohn hindrehte und wie weich er in ihrer Gegenwart wirkte. Beim Beobachten der beiden fühlte ich mich so wie damals, als ich mich heimlich ins Kino geschlichen hatte: Jeden Moment könnte mich jemand erwischen und auffordern zu gehen, da meine Anwesenheit auf Betrug beruhte.
    Das Untergeschoss im Haus der Familie war wie ein Apartment eingerichtet. Ken hatte bis zu seinem Weggang an die Brown University dort gewohnt; danach hatte davon seine kleine Schwester Erica (die zu meinem Entsetzen so alt war wie ich) Besitz ergriffen, seine alten Philosophiebücher übernommen und den Räumlichkeiten mit ihren Plakaten zum Thema Umweltschutz – »Rettet die Wale«, »Rettet die Bäume« und »Rettet die Kinder« – eine persönliche Note gegeben. Erica und ihre Mutter hatten Erfrischungen vorbereitet und auf einem kleinen Tisch angerichtet: ein dreißig Zentimeter langes Sandwich, das diagonal in Häppchen geschnitten war, dazu eine Auswahl an Fruchtsäften.
    Ich zog mir im oberen Badezimmer meine Schlafsachen an, während die Gruppe ein Kartenspiel begann. Ich hatte vor, bei dem Spiel ganz zufällig so nah wie möglich neben Ken zu landen. Wir würden uns mehrmals am Abend ganz sanft berühren, aus Versehen natürlich. Ich würde so tun, als bekäme ich nichts davon mit. Sobald ich dann ausgemacht hätte, wo er schlief, würde ich zufälligerweise neben seinem Platz niedersinken und ihn so dazu bringen, auf die »Schwingungen« zu reagieren, die sich den ganzen Abend über zwischen uns aufgebaut hatten. Seine Lippen würden so weich sein

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