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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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bei jeder Tür, die sich öffnete, bei jedem Gespräch, bei jeder neuen Begegnung. Wie gebannt trottete ich die Bürgersteige in diesen Vorstädten auf und ab, voller Neugierde, was mich wohl als Nächstes erwartete.
    Aber die bei Weitem besten Tage waren die, wenn Kens und mein Gelände direkt nebeneinanderlagen. Ich lebte für diese Tage. Kaum war Shen mit dem Bus verschwunden, taten Ken und ich uns zusammen, teilten uns unsere Straßen und gingen manchmal sogar gemeinsam von Tür zu Tür. Wir vereinbarten nicht vorher, wer das Reden übernehmen würde; stattdessen gab es zwischen uns ein stummes Einverständnis. Wir waren ein gutes Team. Zumindest beim Spendensammeln. Wir konnten jedes Tagessoll übertrumpfen, und sogar mehr als das. Waren wir früh genug fertig, suchten wir uns irgendwo ein schattiges Plätzchen und unterhielten uns – obwohl ich zutiefst verunsichert war, welche Themen ich Ken gegenüber anschneiden konnte. Sollte ich ihm von Ma erzählen? Von der University Avenue? Wie ich mich gerade
noch rechtzeitig vor Carlos aus dem Motel geflüchtet hatte? Dass ich letzte Woche wieder im Zug geschlafen hatte? Für diese Inhalte schien in unseren Gesprächen kein Platz zu sein. Nicht, wenn die Sonne schien und man die frische Erde im Park riechen und die Zikaden in den Baumwipfeln hören konnte. Nicht, wenn Ken so wie jetzt gerade lachte. Wenn ein Gespräch über mein Leben einem die Laune verderben konnte, warum überhaupt davon anfangen? Also überließ ich Ken das Reden – über seine Familie, seine Exfreundin und über die Brown University, in allen Einzelheiten. Ich sog alles in mich auf, ließ seine Lebensfreude und seine Liebenswürdigkeit auf mich wirken. Wir ahmten Nicole und Shen nach und lachten uns schlapp, amüsierten uns über den Job, lachten über das Leben – wir lachten, bis wir nicht mehr konnten.
    Es war so einfach, mit Ken zu lachen. So einfach, daran zu glauben, dass ein Leben inmitten dieser Bilderbuchhäuser, dieser perfekten Vorgärten an diesen sonnigen Tagen genauso möglich war wie das Leben, das ich schon kannte.
    Eines Tages im August, als ich in einem Zug der Linie A saß und Papierkram für die Prep ausfüllte, sah ich Sam. Sie war auf der Linie C unterwegs; wir entdeckten uns genau in dem Moment, als die Türen sich schlossen. Unsere Züge standen sich am gleichen Bahnsteig genau gegenüber. Wie zwei Pferde, die auf einer Rennbahn nebeneinander starteten, fuhren die Züge aus dem Bahnhof und traten ihre parallel verlaufende Fahrt durch die dunklen Tunnel an, mal mehr und mal weniger synchron. Ich legte meine Handflächen flach auf das Glastürfenster, und Sam machte es mir nach. Die Absurdität unserer Begegnung ließ uns beide grinsen. Sam streckte mir ihren Mittelfinger entgegen. Ihre Haare waren grün und zu zwei Knoten mitten auf dem Kopf hochgebunden, dazu trug sie einen langen Rock und ein kastanienbraunes Spitzenmieder. Sie sah gepflegt aus und hatte offensichtlich ein gesünderes Gewicht als damals. Ich signalisierte ihr per Handzeichen, an der nächsten Haltestelle auszusteigen, aber die Säulen des
U-Bahn-Tunnels versperrten uns immer wieder die Sicht aufeinander. Wir stiegen an der 14th Street aus, rannten aufeinander zu und fielen uns in die Arme. Sie roch nach Seife und Babypuder. Ich zitterte.
    »Wo warst du?«, kreischte sie und schlug mir auf die Schultern. Im Motel war unsere Freundschaft durch den Stress mit Carlos belastet gewesen. Aber viele Monate später, an einem kühlen Nachmittag im August, traf ich sie wieder wie neu. Ich liebte sie wie eine Schwester.
    »Hier und da«, sagte ich. »Ich krieg mein Leben auf die Reihe, so was in der Art. Ich habe jetzt einen Job. Wollen wir einen Spaziergang machen?«
    Wir schlenderten mit unseren Schultaschen durch Chelsea. Ich war überrascht, als sie eine Schachtel Zigaretten hervorholte und zu rauchen begann, aber ich sagte nichts. Nachdem so viel Zeit seit unserem letzten Zusammensein vergangen war, konnte ich nicht abschätzen, ob wir uns noch nahe genug standen, um unsere Meinung über zu persönliche Dinge lautstark kundzutun. Wir liefen durch die Gegend, und sie brachte mich auf den neusten Stand, was ihr Leben betraf. Im Wohnheim war es gar nicht so schlecht, die Girls waren ihre neue Familie. Und ganz sicher würde sie Oscar heiraten. Es war zwar noch nichts Offizielles geplant, aber sie spürte es. Lilah, ein Mädchen aus dem Wohnheim aus Staten Island, wäre dann ihre Trauzeugin, nach allem, was sie

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