Als der Tag begann
zurück. Ihre Vorstellung von meiner Zukunft entmutigte mich so sehr, dass ich beschloss, meine wahren Wünsche vor ihr zu verheimlichen, nach außen hin aber allem zuzustimmen, was sie sagte. Ich nickte und lächelte und tat so, als wäre ich genauso entzückt von ihrer Beratung wie sie selbst. Dann entschuldigte ich mich, ich bräuchte dringend etwas aus dem Wohnzimmer, und leistete Lisa auf dem Sofa Gesellschaft.
Aber Grandma brauchte mich nicht – oder sonst wen, um genau zu sein –, um ein angeregtes Gespräch zu führen. Ließ man sie in der Küche zu lange allein, war sie genauso glücklich, wenn sie auf dem Boden niederkniete und ein Privatgespräch mit Gott persönlich führte. Lisa machte den Fernseher leiser, damit wir aus dem Nebenzimmer Grandmas leidenschaftlich vorgetragene Wiederholungen von »Gegrüßet seiest Du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit Dir« belauschen konnten. Sie machte weiter und weiter, klapperte mit ihrem Rosenkranz und murmelte vor sich hin,
bis ihre Ansprache immer rhythmischer statt verständlicher wurde. Das bedeutete, dass nun eine direkte Verbindung nach oben bestand.
Lisa schaltete den Fernseher ganz aus, sobald Grandmas Gebete lauter wurden. Ihre Stimme schwoll auf eine Art an, die ich furchterregend fand, wenn sie lautstark nach Führung von oben verlangte – ihr ganz persönlicher CB-Funkspruch für den Herrn im Himmel. Grandma konnte sich stundenlang in dieser Trance verlieren, unbeweglich, während der Tee in den Glasbechern auf dem Tisch kalt wurde. Die Küche blieb tabu für uns, wenn Grandma mit Gott sprach.
»Lisa, schschsch, ich will zuhören.« Ich glaubte, sie hätte wirklich den Himmel erreicht, und strengte mich an, aus Grandmas Antworten herauszuhören, in welche Richtung Gottes direkte Beratung wohl so ging. Lisa verzog feixend den Mund.
»Du bist so blöd«, tadelte sie mich, »Grandma ist einfach nur verrückt. Ma sagt, sie hört Stimmen. Sie spricht nicht mit Gott, sie ist einfach nur durchgeknallt.«
Oftmals erzählte Ma uns, während sie eifrig vor Grandmas Ankunft putzte, wie ihre eigene Kindheit durch die Geisteskrankheit ihrer Mutter ruiniert wurde. Als kleines Mädchen wurde Ma gezwungen, nur wenige Minuten nach Schulschluss zu Hause zu sein. Doch der Schulweg war lang. Grandma stellte Mas Uhr genau nach der in ihrem Wohnzimmer, und wenn Ma sich verspätete, ein paar Minuten reichten, erhielt sie eine ordentliche Tracht Prügel. Grandma benutzte alles, vom Verlängerungskabel bis zu genagelten Absätzen, und alle Schläge landeten auf Mas zarten inneren Oberschenkeln, bis blauschwarze Male vom Schritt bis zum Knie die Haut verfärbten. Mitten in der Nacht wurden Ma und ihr Bruder Johnny oft aus ihren Betten gezogen und bekamen Töpfe und Löffel in die Hand gedrückt. Die Anweisung lautete, hart zuzuschlagen, so viel Lärm wie möglich zu machen und dabei einen Satz zu schreien, den Grandma angeordnet hatte: »Der-Sit-tich-ist-zer-rupft, der-Sit-tich-ist-zer-rupft«, und zwar
so lange, bis das Geklapper die Stimmen, die Grandma peinigten, übertönte.
Dies sei zum Teil der Grund, sagte Ma, warum sie von zu Hause weggelaufen sei, um auf der Straße zu leben, als sie noch sehr jung war, und warum sie weinte, während sie sich in ihrem verdunkelten Schlafzimmer traurige Platten anhörte und dabei an all die Schwierigkeiten dachte, in die sie seitdem geraten war.
»So eine Kindheit kann dir alles vermasseln«, pflegte Ma zu sagen. »Was sollte ich nach all dem ihrer Meinung nach noch werden, Miss America vielleicht?«
Später in ihrem Leben bändigten eine dezidierte Tablettenkur und Gespräche mit Gott Grandma schließlich. Ohne das, schwor Ma, war der Teufel in ihr schnell in Rage gebracht.
»Aber du solltest wissen, sie kann nichts dafür«, erklärte mir Ma einmal mit sanfter Stimme, die mir verriet, dass sie Grandma liebte. »Es ist vererbbar. Ihre Mutter hatte es, genau wie die Mutter ihrer Mutter. Und hin und wieder, mein Schatz, hat es mich auch gepackt, aber nie so wie Grandma. Bei mir ging es nach der Behandlung hundertprozentig weg. Sie dagegen ist immerzu halb im Gaga-Land unterwegs. Sie kann nichts dafür.«
Die »Behandlung«, von der Ma sprach, war ein zwei- oder dreimonatiger Aufenthalt in der psychiatrischen Abteilung des North Central Bronx Hospital, nachdem Daddy sie halluzinierend und Stimmen hörend vorgefunden hatte. Bevor ich zur Welt kam, hatten sie ein paar Medikamente ausprobiert, bis Ma dann für ihr inneres
Weitere Kostenlose Bücher