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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Gleichgewicht Prolixin und Cogentin verschrieben worden war. Daddy erklärte, weitere Anfälle seien unwahrscheinlich, weil der letzte schon Jahre her und Ma seitdem gut beieinander sei. So oder so war ich davon überzeugt, das Ma niemals etwas anderes als hundert Prozent sie selbst sein könnte, unter anderem auch deshalb, weil mich der Gedanke, sie könnte anders sein, verwirrte und beängstigte.
    In der Küche lachte Grandma vielsagend vor sich hin, wie ein Mitwisser irgendeines Insiderwitzes.

    »Und los geht’s«, lästerte Lisa. Ihre verdrehten Augen und das Kreiseln ihres Fingers neben ihrem Kopf galten mir. Bis Lisa und Ma es angesprochen hatten, hatte ich Grandmas Selbstgespräche nie mit ihrer Geisteskrankheit in Verbindung gebracht. Ich wurde rot wegen meiner eigenen Leichtgläubigkeit.
    »Ich weiß sehr wohl, dass sie nicht mit Gott spricht. Ich bin doch nicht bescheuert«, keifte ich zurück.
    In diesen frühen Jahren überbrückte Ma einige unserer Einkommenslücken, indem sie uns durch andere staatliche Programme ernährte, zum Beispiel durch Gratismittagessen, die von den hiesigen öffentlichen Schulen angeboten wurden. Lisa und ich mussten sie oft aus dem Bett zerren, damit sie uns und sich selbst fertig anzog. Deshalb waren wir fast nie pünktlich. In allerletzter Minute hastete sie dann in der Wohnung umher, um hektisch die verlorene Zeit aufzuholen.
    »Sitz – einfach – still! Wenn du herumzappelst, wird alles noch viel schlimmer.«
    Mein Kopf zuckte und schwankte bei jedem Ruck durch Mas feinzackigen Kamm hin und her. Ihre Fingernägel entflammten Feuer auf meiner Kopfhaut. »Aua, Ma!«
    »Wir haben nur noch fünfzehn Minuten, Lizzy. Wir müssen los. Ich versuche ja, ganz vorsichtig zu sein. Wenn du still sitzen bleibst, tut es auch nicht weh«, beharrte sie und zog als Beweis für ihre Reden an meinen Haaren. Aber das war alles gelogen, wie ich aus Erfahrung wusste. Lisa stand in der Tür und streckte mir die Zunge heraus; ihr Haar war leicht zu bändigen. Meine Wangen brannten vor Wut. Gerade als ich mich bei ihr auf die gleiche Art revanchieren wollte, verhakten sich die Zähne des Kamms in einem gewaltigen Knoten. Ohne zu zögern, arbeitete Ma sich blindwütig vor und riss die widerspenstigen Strähnchen wie trockenes Gras aus. Ich zuckte zusammen, schloss die Augen und umklammerte im Kampf mit dem Schmerz die Matratzenkante unter mir.

    »Siehst du, wenn du still sitzt, ist es nicht so schlimm.«
    Ich wusste, ich würde mir für den Rest des Vormittags meine pochende Kopfhaut reiben.
    Wir liefen Gefahr, zum dritten Mal in dieser Woche kaltes Essen serviert zu bekommen – oder schlimmer noch, es könnte überhaupt nichts mehr übrig sein. Besonders dramatisch war die Situation, wenn wir uns gerade zwischen zwei Sozialhilfeschecks befanden und die Gratismittagessen die einzige richtige Mahlzeit am Tag waren.
    Die intensive Julisonne entblößte die Bronx bis ins Innerste und stellte ihren Inhalt zur Schau. Die hohen Temperaturen trieben alle Bewohner unseres Viertel aus ihren stickigen Wohnungen ohne Klimaanlage, um die aufgeplatzten Bürgersteige zu bevölkern.
    Ich winkte den alten Damen zu, die den ganzen Tag mit Klatsch und Tratsch in ihren Gartenstühlen verbrachten. Jede von ihnen beanspruchte einen guten Quadratmeter Teer für sich und ihr batteriebetriebenes Radio.
    »Hi, Mary«, sagte Ma, und ich lächelte die Frau an, die mir jedes Mal, wenn ich sie im Treppenhaus traf, Fünfcentmünzen für Erdnussbarren gab.
    »Guten Morgen, Mädchen, guten Morgen, Jeanie«, grüßte sie zurück.
    Alte Männer aus Puerto Rico spielten vor dem Eckladen auf verrotteten Brettern, die auf Schlackensteinen auflagen, Domino. Ma nannte sie immer schmutzige alte Männer und sagte, ich solle mich bloß von ihnen fernhalten, da sie schmutzige Gedanken hätten und schmutzige Dinge mit kleinen Mädchen tun würden, wenn sie die Gelegenheit dazu bekämen. Als wir uns den Männern näherten, versuchte ich, meinen Blick auf meinen Schuhen zu halten, um Ma zu zeigen, dass ich gehorsam war. Sie riefen ihr Sachen hinterher, die ich nie verstand, »Mami, venga aquí, blanquita«. Und sie pfiffen und machten mit ihren feuchten, vom Bier schimmernden Lippen Sauggeräusche.

    Wir kamen an ein paar von Mas Freundinnen vorbei, die in der Nähe auf Treppenstufen kauerten, ihre Kinder immer im Blick. Sie hielten beladene Schlüsselbunde in der Hand, dekoriert mit Puerto-Rico-Fahnen aus Plastik und grinsenden

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