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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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aber auf Mas Bitte hin steckte Lisa ihr ein Stück Frikadelle zu. Darauf bedacht, dass die Essensdamen nichts davon mitbekamen, stopfte Ma es sich rasch in den Mund und ließ mich den Saal überwachen, um sicherzugehen, dass wir nicht beobachtet wurden. Dabei dachte ich erneut über Mas Worte hinsichtlich der Tatsache, »erwachsen zu werden«, nach.
    Ich starrte hinüber zu den Fluren mit den Treppen und Türen, hinter denen in diesem Sommer, in dem ich am Gratismittagessens-programm der Public School 31 teilnahm, so viele Geheimnisse lauerten. Ich mochte es, wenn Lisa in den letzten Jahren jeden Morgen zur Schule ging, während ich die Zeit allein mit Ma verbringen durfte. Wir wachten auf, wenn uns danach war, und Ma setzte mich dann aufs Sofa, und wenn wir genug zu essen hatten, kam ich in den seltenen Genuss eines Sandwichs mit Erdnussbutter und Marmelade. Dann sahen wir uns gewöhnlich die Unterhaltungsshows im Vormittagsprogramm an, Mas Laune stieg bei Bob Barker und The Price Is Right . Mas Ansicht nach war er »einer der letzten echten Gentlemen«, und sie rückte immer besonders
dicht an den Fernseher heran, um gute Sicht auf ihn zu haben, wenn sein Gesicht unseren Bildschirm ausfüllte, das weiße Haar perfekt gekämmt, der Anzug frisch gereinigt. Gemeinsam wetteten wir dann auf den Superpreis und wechselten uns in der Rolle des Kandidaten ab. Wir gewannen Boote, neue Wohnzimmergarnituren und glamouröse Reisen um die Welt. Ich stand Spalier und klatschte extralaut für die Kandidaten, die richtig viel gewannen, Ma staubsaugte manchmal dabei und summte leise vor sich hin, während ich stundenlang vor dem Fernseher geparkt und unsere Wohnung hell erleuchtet war von der Vormittagssonne. In diesem kurzen Zeitraum hatte ich das Gefühl, Ma gehörte nur mir allein.
    An manchen Tagen nahm Daddy mich mit in die Leihbibliothek, wo er mir half, Bücher auszuwählen, die hauptsächlich aus Bildern bestanden. Er selbst suchte sich dicke Bücher aus mit Fotografien von nachdenklichen Männern auf dem Umschlagrücken, die er in der ganzen Wohnung stapelte und nie wieder zurückbrachte. Immer wieder meldete er sich unter einem anderen Namen für den Bibliotheksausweis an. Nachts holte ich mir gern eins seiner Bücher und nahm es mit in mein Zimmer, wo ich es dann genauso las wie Daddy – direkt unter der Nachttischlampe, auf der Suche nach bekannten Wörtern von den Abenden, an denen Ma mir am Bett vorgelesen hatte. Aber die Wörter waren zu kompliziert und machten mich müde. Also schlief ich meistens einfach nur neben dem Buch ein, mit dem Geruch der gelben Seiten in der Nase und dem angenehmen Gefühl im Bauch, dass ich etwas mit meinem Vater teilte.
    Der Gedanke daran, dass ich bald morgens weg sein und all das verpassen würde, bereitete mir Sorgen. Ich hatte das Gefühl, dass mir etwas zwischen den Fingern zerrann und dass ich die Einzige war, die den Verlust dieses besonderen Zeitvertreibs bedauerte.
    Ich überlegte, wie der Beginn der Schulzeit wohl sein würde und wie sie mir beim Erwachsenwerden helfen sollte. Ich fragte mich, was »erwachsen« bedeuten könnte, wo es doch so viele verschiedene
Arten von Erwachsenen um mich herum gab. Obwohl ich es mir verzweifelt wünschte, traute ich mich nicht, Ma darum zu bitten, mir beim Begreifen all dieser Dinge zu helfen. Ich wusste genau, dass sie sich für sich selbst und das Schnorren und Betteln, das wir nötig hatten, um über die Runden zu kommen, schämen würde. Ein paar Dinge musste ich wohl selbst herausfinden.
    Später in dieser Woche nannte der Sprecher der Abendnachrichten – ein Weißer im Anzug, der einen dreieckigen Hut auf dem Kopf hatte, an dem farbenfrohe Wimpel baumelten – den Tag, den 4. Juli, einen Anlass, um unsere Unabhängigkeit zu feiern. Dann winkten er und eine Frau mit aufgeplusterter Frisur neben ihm zum Abschied und tröteten gleichzeitig in Kazoos. Der Ton kam als Hupen in unserem Wohnzimmer an und wurde zum zweitlautesten Geräusch neben dem Ventilator am Fenster neben mir. Ich saß allein auf dem Sofa, vollkommen reglos. Ma hatte mir vorher, als es noch hell draußen gewesen war, versprochen, dass sie mit uns nach Downtown ans Wasser gehen würde, damit wir mit allen anderen zusammen das Feuerwerk sehen könnten. Ich hatte mich in Windeseile angezogen und zur Feier des Tages meine blauen Shorts und das gebatikte T-Shirt ausgewählt. Aber ich war zu lange in meinem Zimmer geblieben. Als ich wieder herauskam, war Ma schon, ohne

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