Als der Tag begann
und der Gesang eines Mannes drang, kam von beiden keinerlei Reaktion.
Lisa schien ihre Wertvorstellungen aus irgendeiner höheren Sphäre zu beziehen, die nur sie selbst kannte. Wenn ich jetzt raten müsste, woher ihr Widerstand gegen diese ständige Benachteiligung rührte, würde ich sagen, dass es etwas mit dem Jahr vor meiner Geburt zu tun hatte.
Als Ma mit mir schwanger war, hatte sie einen Nervenzusammenbruch, wie sie es nannte. Daddy war im Gefängnis, und Ma hatte Schwierigkeiten damit, ihre psychische Verfassung in den Griff zu kriegen und gleichzeitig für Lisa zu sorgen. Lisa wurde daraufhin für fast acht Monate in einer Pflegefamilie untergebracht.
Das Paar, das sich um Lisa gekümmert hatte, war wohlhabend und konnte keine eigenen Kinder bekommen, also behandelten sie Lisa wie ein richtiges Familienmitglied. Sie überschütteten sie mit so viel Aufmerksamkeit und Fürsorge, dass Lisa, als es Ma wieder besser ging und sie sie abholen wollte, protestierte, indem sie sich im Schrank einschloss und sich weigerte mitzugehen. Ma musste Lisa regelrecht aus dem Haus zerren und in die University Avenue zurückschleppen, beide in Tränen aufgelöst – und genau das scheint Lisa ihr nie verziehen zu haben.
Von diesem Moment an konnte man es Lisa nicht mehr recht machen, behauptete Ma. Es sah so aus, als hätte sie einen siebten Sinn dafür entwickelt, was ihr zustand, und sie war schnell dabei, mit dem Fuß aufzustampfen, wann immer man ihr weniger bot – was fast immer der Fall war.
»Und überhaupt, ich bin nicht arm – Donald Trump ist mein Daddy!«, kreischte sie über den Tisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Tja, dann bitte doch mal Donald Trump um ein bisschen Hühnchen, okay?«, antwortete Daddy. Ma unterdrückte ein Lachen, aber Daddy johlte unverfroren über seinen eigenen Witz und schlug sich mit den Händen auf die Knie.
Laut scheppernd platzierte Lisa plötzlich ihren Teller auf meinem, der kippte, wodurch mein Rührei zu einem Haufen zusammenrutschte. Sie stapfte davon und knallte die Tür fest hinter sich zu. Der Knall ging über in das Geplärre von Popmusik aus ihren verzerrten Lautsprechern. Ma und Daddy übernahmen wieder das Wohnzimmer, zwei müde Gestalten auf Kissen verteilt, so schlaff wie gekochte Nudeln.
»Ich habe mein ganzes Rührei aufgegessen«, verkündete ich, aber niemand hörte mir zu.
Grandma, die Mutter meiner Mutter, lebte in Riverdale, gegenüber vom Van Cortlandt Park, in einem Altersheim im Stil der Sechzigerjahre, in dem sie rauchte, betete und täglich aus der Telefonzelle bei uns anrief. Sie war die Einzige aus der Familie, zu der wir Kontakt hatten. Daddys Mutter schickte nach wie vor manchmal Geschenke aus Long Island, aber durch seine Drogensucht war Daddy zum schwarzen Schaf der Mittelstandsfamilie geworden. Sie haben uns in meinem ganzen Leben nicht einmal besucht, kamen nie vorbei, um zu sehen, wie wir in der Bronx lebten. Obwohl Ma mit dreizehn von zu Hause weggelaufen war, versöhnte sie sich später mit ihrer Mutter. Als Lisa und ich auf die Welt kamen, besuchte Grandma uns einmal die Woche, immer samstags, wenn sie den Bus Nummer neun bestieg und mit ihrer Seniorenkarte nur den halben Preis für die Fahrt in die University Avenue bezahlte.
Vor ihren Besuchen raste Ma durch die Wohnung, zog Bettlaken glatt und klemmte sie in den Ecken der Betten fest, stapelte Teller ins Spülbecken und ließ heißes Wasser über sie laufen. Sie fegte den Staub zu einem Haufen unter dem Sofa zusammen und versprühte Minuten vor Grandmas planmäßiger Ankunft Raumspray über unseren Köpfen.
Grandma wurde an einem heißen Sommernachmittag um Punkt zwölf Uhr erwartet, aber Ma trödelte wie immer mit sämtlichen Aktivitäten bis zur letzten Minute herum. Der Treibgassprühregen fiel noch in kalten Wölkchen auf mich herab, als
Grandma, viel zu warm gekleidet für dieses Wetter, bei uns zu Hause ankam. Sie keuchte heftig von dem kurzen Treppenanstieg die zwei Stockwerke hinauf, und aus ihrem Pulli strömte ein beißender Zigarettengeruch, als wir uns umarmten. Ihr Haar war zu einem strengen grauen Knoten gebunden. Ihre Augen waren klar und grün, ihre Haut, übersät mit verblassten braunen Altersflecken, war faltig und sah wie gegerbt aus. Lisa blieb auf dem Sofa sitzen, sie wandte den Blick nicht vom Fernseher ab, und Grandma musste sich für eine Umarmung zu ihr hinunterbeugen. Ich schlang meine Arme um Grandmas Taille und fragte, wie ihre Busfahrt –
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