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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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einen Fall von Diebstahl gegeben; jemand hatte die Geldbörse eines Schülers geklaut. Es wurde eine Vollversammlung einberufen, und Perry leitete die Diskussionsrunde. »Die Geldbörse ist nicht unser größter Verlust«, sagte er. »In unserer Gemeinschaft wurde Vertrauen zerstört. Das wirft die Frage auf, ob wir sicher sind in unserem Miteinander oder ob wir es nicht sind. Es wird eine Weile dauern, bis wir dieses Vertrauen erneut aufgebaut haben. Unsere Gemeinschaft wurde tief getroffen.«
    Ursache und Wirkung der Handlung einer Person auf eine größere Menschengruppe, in diesem Fall auf die Prep , lagen klar auf der Hand. Ging es aber um die große, weite Welt, so blieb das Ganze für mich abstrakt. Bis ich mich selbst im Supermarkt dabei beobachtete, einen weiteren Diebstahl zu planen, und mein Blick auf den Filialleiter fiel. Bevor ich wieder zur Highschool ging, war ich noch nie Teil einer Gemeinschaft gewesen, und zu der Frage,
welche Folgen meine Handlungen für andere hätten, hatte ich keinen Bezug. Ich hatte das Gefühl, allein auf der Welt zu sein.
    Als ich in diesem Supermarkt unsere Vollversammlung Revue passieren ließ, wurde mir der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung meiner Handlungen um einiges klarer. Im günstigsten Fall würden als Folge des Diebstahls in diesem Laden die Preise steigen. Familien müssten mehr für die Lebensmittel bezahlen, um den Ausfall zu kompensieren, falls sie sich die höheren Preise leisten könnten. Im schlimmsten Fall würde der Laden geschlossen werden, und die Kassiererinnen und dieser Manager würden ihre Jobs verlieren. Das Vertrauen dieser Leute in andere Menschen wäre beeinträchtigt, das konnte ich mir nun vorstellen, als ich an Perrys Worte dachte. Dann ging ich zur Kasse.
    Um ehrlich zu sein, ich habe nicht nie wieder geklaut. Aber dieser Tag war der Anfang , und es war der Startschuss zu einem langen Prozess, in dessen Verlauf ich begriff, dass ich, gelinde gesagt, nicht allein auf der Welt war.
    Ich holte also an der Kasse ein paar Scheine aus den Tiefen meiner Tasche. Die Kassiererin lächelte mich an und gab mir das Kleingeld zurück. Ich wartete, bis der Mann am Ende der Kasse mit zwei geübten Handgriffen meine Tüte gepackt hatte. Es fühlte sich an, als wäre es Jahrhunderte her, seit ich selbst Tüten im Supermarkt gepackt hatte. Auf meinem Weg nach draußen gab ich dem Mann mein Wechselgeld. »Gracias«, bedankte er sich bei mir, und ich ging hinaus.

    Die Ränder unseres Schaubilds waren blutig vor lauter roter Tinte und noch nass von dick aufgetragenen Blau- und Gelbtönen, die die weißen Flecken auf der Seite zum Leuchten brachten und den Lehrsatz aus der Biologie zum Leben erweckten: »Die B-Zellen helfen den T-Zellen, Erkrankungen und Leiden zu bekämpfen.«
    Als Teil einer Dreierarbeitsgruppe wählten Eva und ich ein originelles Design für unsere Präsentation, in der wir die Rolle der Zellen beim Kampf des Immunsystems gegen HIV und Aids darlegen
sollten. Alle gemeinsam traten wir zurück, um das Bild auf uns wirken zu lassen, das unser Team ausgewählt hatte: Boxer in einem Boxring, die ihre roten Handschuhe in Kinnhöhe zum Schlag bereithielten. Am Rand des Rings war ein Trainer mit einem Handtuch um den Hals und einer Wasserflasche in der Hand, die B-Zelle als Kommunikator. Der kleinere Boxer stand für eine T-Helferzelle, er war der hoffnungsvolle Kämpfer. Der größte Mitstreiter repräsentierte das Virus HIV, und er stand groß und bedrohlich im Ring.
    In der Hocke holte Eva mit schaukelnden Kreolen tief Luft und blies auf die Tinte, die langen Haare nach hinten gebunden. Sam, die mittlerweile in ihrem zweiten Semester an der Prep war, reichte ihr einen Leuchtstift, um die fett gedruckte Überschrift noch stärker hervorzuheben. »Mache dich stark und bekämpfe die Ausbreitung von Aids!«
    »Wir hätten sie wie die Crips und die Bloods aussehen lassen sollen, nach dem Motto ›Du hast keine Chance!‹, wenn ihr kapiert, was ich meine.« Sam schwang ein Messer schwungvoll durch die Luft. Wir mussten alle drei lachen. Durch ihr Umfeld im Wohnheim kannte Sam lauter Sprüche aus dem Jugendbanden- und Gefängnismilieu, und ihr Slang kam jetzt noch mehr von der Straße. Sie an der Prep zu wissen, fühlte sich an, als hätte ich etwas von meiner Familie zurückbekommen. Sam kam längst nicht jeden Tag zur Schule, aber sie war oft genug da, um Teil unserer kleinen Gemeinschaft zu sein; sie freundete sich mit einigen Leuten an und

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