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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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auch, mein Schatz. Ich bin HIV-positiv. Die Diagnose kam im April.«
    April? Wir hatten bald Oktober. Die ganze Zeit hatte er mir nichts davon gesagt? Wie konnte er so etwas für sich behalten, selbst wenn wir Abstand zueinander hielten? Es fühlte sich an, als hätte mir jemand in die Brust geboxt – mein Herz raste, und mein Gesicht lief rot an. Ich sah zu ihm auf, meinem einzigen noch lebenden Elternteil, und wurde von der Erkenntnis getroffen, dass ich auch ihn verlieren würde – noch mehr Verlust in meinem Leben. Ich stand neben ihm auf dem Bürgersteig, und jegliche Farbe schwand aus meiner Welt.
    Aus dem Menschengedränge um uns herum tauchte Lisa auf. Bevor sie näher kam, beugte Daddy sich zu mir und flüsterte: »Bitte, Lizzy, tu mir einen Gefallen. Sag Lisa nichts.«
    Wir setzten uns für Kaffee und Kuchen nieder, und ich hörte Daddy und Lisa bei ihrer angestrengten Unterhaltung zu. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich versuchte, normal zu wirken. »Ich bin HIV-positiv … Bitte, Lizzy, sag Lisa nichts.« An diesem Abend war er witziger und besser gelaunt denn je, besser, als ihm wohl tatsächlich zumute war, vermutete ich. Als der Kuchen ankam, mit achtzehn Kerzen, hielten sie mir zusammen ein Geburtstagsständchen, und Daddy drückte unterm Tisch sanft meine Hand – eine hilflose Geste, ausgeführt mit zittriger Hand. Dass er mich berührte, fühlte sich irgendwie komisch an, und ich wusste, dass es ihn eine Menge Überwindung gekostet haben musste. Durch diese Geste konnte ich spüren, dass er durch die zwischen uns spürbare
Entfremdung zur mir gelangen wollte und mir stumm versicherte: »Ich bin bei dir, Lizzy .« Ich konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Ich war wie gefangen von diesem Bild: mein Vater, der im Qualm der ausgeblasenen Geburtstagskerzen in die Hände klatscht, so verletzlich und noch voller Leben, direkt vor meinen Augen, vorläufig noch. Ich wollte ihn mir greifen, ihn vor Aids beschützen. Ich wollte dem, was da unserer Familie zustieß, Einhalt gebieten, wollte ihn in Sicherheit bringen und wieder gesund machen.
    Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden …
    Beim Ausblasen der Kerzen wünschte ich mir nichts. Stattdessen entschied ich mich dafür, meinem Vater zu verzeihen, und legte stumm das Versprechen ab, daran zu arbeiten, unsere Beziehung wiederherzustellen. Ich würde nicht den gleichen Fehler wie bei Ma machen, ich würde für ihn da sein. Wir würden wieder am Leben des anderen teilnehmen. Nein, er war nicht der beste Vater der Welt gewesen, aber er war mein Vater, und wir liebten uns. Wir brauchten uns. Obwohl er mich viele Jahre hindurch unzählige Male enttäuscht hatte, hatte sich das Leben schon einmal als zu kurz erwiesen, um sich an so etwas festzubeißen. Also ließ ich von meinem Schmerz, von der jahrelangen Enttäuschung zwischen uns ab. Und vor allem ließ ich von der Sehnsucht in mir ab, meinen Vater zu ändern, und akzeptierte ihn so, wie er war. Ich nahm mein ganzes Leid und entließ es wie eine Handvoll Heliumballons in den Himmel, und ich entschied mich dafür, meinem Vater zu verzeihen.
    Ironischerweise wurde die Schule zu meiner Zuflucht – trotz der ganzen Jahre, die ich ihr aus dem Weg gegangen bin. Für meine zwei übrigen Semester an der Prep quetschte ich so viele Kurse wie nur irgend möglich in meinen Stundenplan, und ich war verliebt in die Vorstellung, meine Ausbildung dazu zu nutzen, mir ein
neues Leben aufzubauen. Ich fand großen Gefallen an dem Gefühl, etwas geleistet zu haben, wenn ich lange über meinen Unterlagen gebrütet hatte, und ich genoss den kreativen Prozess, ganz besonders sorgfältig Aufsätze über Autoren wie Shakespeare oder Salinger zu verfassen. Genau zu entscheiden, welches Wort ich in welchen Satz einfügte, hatte etwas von der Arbeit an einem Puzzlespiel und stellte eine Herausforderung dar. Ich war gefesselt durch Perrys enthusiastisch geführte Diskussionen über Motivation der Charaktere und Syntaxkonstruktionen, und seine eines Nachmittags vorgebrachte gewagte Feststellung »Grammatik rettet Leben!« blieb mir lange im Gedächtnis haften. »Interpunktion ändert alles«, proklamierte er dann einmal mit weißer Kreide quer über die Tafel. »›Wir essen gleich, Großvater!‹ oder ›Wir essen gleich Großvater!‹ macht für Großvater einen Riesenunterschied«,

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