Als der Tag begann
Abgabetermine rasend schnell näher rückten und ich mit meinen Bewerbungen vorankommen musste. Da die Informationen auf den Formularen viel zu umfangreich und zeitraubend waren, überflog ich das Material nur noch auf der Suche nach dem allerwichtigsten Detail: der Höhe des Stipendiengeldes.
Diese Leute machten wohl Witze! Was für eine Enttäuschung! Die Bewerbungen auszufüllen würde viel zu viel Zeit kosten für viel zu wenig Geld. Außerdem war die ganze Angelegenheit höchst verwirrend. Eine Firma für Finanzprodukte bot dem Gewinner eines Essaywettbewerbs zum Thema »Freier Handel im freien Markt« fünfhundert Dollar. Noch eine Runde Applaus von draußen. Irgendjemand pfiff laut. Ich legte diese Bewerbung zur Seite; dafür müsste ich Zeit in der Bibliothek aufbringen. Eine andere Firma bot dem Studenten mit der besten politisch motivierten Kurzgeschichte über egal welchen berühmten Politiker, der in den letzten hundert Jahren im Amt gewesen war, zweihundertfünfzig Dollar. Ein anderes Stipendium belief sich auf vierhundert Dollar, ein anderes auf tausend. Diese Studienbeihilfen würden gerade mal die Kosten fürs Essen an einem Topcollege abdecken, dachte ich. Ich fragte mich, wie es machbar war, dass arme Leute mit weniger als dreißig Stipendien pro Jahr zu einer guten Ausbildung kamen. Irgendwann blätterte ich weiter und stieß auf das eine Stipendium, auf das ich gewartet hatte. Eins, das Jessie mit einem Post-it ausstaffiert hatte, auf dem in schwungvoller blauer Tinte die Bemerkung »Genau das Richtige für dich« stand. Dieses Formular stammte aus dem College-Stipendien-Programm der New York Times , und es bot »$12 000 im Jahr, für jedes einzelne Jahr am College«. Ganz offensichtlich hatte man dort eine Vorstellung davon, wie teuer eine erstklassige Ausbildung war. Laut
Formular war lediglich ein Aufsatz erwünscht – mal abgesehen von den Fragen nach Notendurchschnitt und außerschulischen Aktivitäten –, in dem ich über ein Hindernis schreiben sollte, das ich in meinem Leben hatte überwinden müssen, um schulischen Erfolg zu haben.
Ich machte große Augen. Kein Witz? Ich meine, wirklich? Es war so aberwitzig perfekt, dass ich laut loslachte. Mit einer energischen Armbewegung schob ich sämtliche Unterlagen zur Seite und legte ein leeres Blatt Papier vor mich hin, um eine Gliederung für diesen Aufsatz zu entwerfen. Meine Hand flog über das Papier und formulierte Stichpunkte. Einen ersten Absatz verfasste ich in wenigen Minuten. Das ist es, dachte ich. Ich beschloss, eine Pause einzulegen und mir ein Glas Wasser zu holen. Als ich aus dem Büro trat, löste sich die Versammlung gerade auf. Bessim, einer der Schüler im Abschlussjahr, kam zu mir und klopfte mir auf die Schulter. »Super Leistung«, sagte er.
Ich sah ihn verständnislos an. »Hm, ja«, erwiderte ich verwirrt.
»Gratuliere«, fügte er hinzu.
Immer noch völlig verwirrt, fragte ich ihn: »Für was denn?«
»Für die ganzen Auszeichnungen«, sagte er. »Sie haben deinen Namen immer wieder aufgerufen. Also, gratuliere.«
Ich ging wie betäubt weiter. Ich hatte noch nicht einmal mitbekommen, dass es sich bei dieser Vollversammlung um eine Preisverleihung gehandelt hatte!
Ich eilte zu Perrys Büro. Er war gerade am Telefon, unterbrach sein Gespräch aber kurz, um mir zu sagen: »Wir haben dich da drinnen vermisst«, und mir einen Ordner mit meinem Namen darauf auszuhändigen.
Zurück in Jessies Büro, schlug ich den Ordner auf und holte meine Auszeichnungen hervor: edles weißes Papier mit einem reich verzierten blauen Rand, auf dem in kalligrafischer Schrift »Liz Murray« stand. Es waren fast ein Dutzend Auszeichnungen, inklusive der für den besten Bühnenauftritt als Hamlet in der Talentshow der Schule, der für meinen Einsatz im HIV-Aids-Peer-Education-Programm
sowie der für herausragende Leistungen in etlichen Unterrichtsfächern.
Sofort nahm ich mir wieder das Times- Stipendium vor. Draußen vor dem Fenster standen Schüler rauchend und Kaugummi kauend beisammen und redeten. Der Unterricht war für heute zu Ende.
Mit zitternder Hand hielt ich meinen Stift über das Papier. Ich arbeitete in einer Art Trance und ließ alles aus mir heraus aufs Papier fließen. Meine Frustrationen, meine Traurigkeit, all mein Leid formulierte die Worte – meine Gefühle schrieben den Aufsatz, oder aber der Aufsatz schrieb sich selbst. Was immer es auch war – ich war es nicht, die da den Stift führte, weil ich nicht anwesend
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