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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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Gewissheit, dass ich endlich in Sicherheit war, sanft in den Schlaf gleiten.
    Am nächsten Tag, einem drückend heißen Samstag im Juni, setzte ich mich mit einem Buch draußen vor dem Haus auf die Treppe und wartete auf den Postboten. Es dauerte Stunden. Der Eiswagen
zog seine Kreise durchs Viertel. Ich beobachtete Mütter, wie sie mit ihren Schlüsselbunden in Leggins und Flip-Flops auf den Stufen kauerten, die Kinder immer im Blick. Aus den Lautsprechern in einer Wohnung im oberen Stockwerk dröhnte Latinomusik. Ich wippte ununterbrochen mit dem Fuß, in Schweiß gebadet von der heißen Sonne, und überflog eine Seite nach der anderen. Dabei hatte ich die Straßenecke fest im Blick.
    Endlich, irgendwann am frühen Nachmittag, erspähte ich den Postboten noch genau vier Häuser von mir entfernt. Ich schlug mein Buch zu und beobachtete, wie ihn jemand in ein Gespräch verwickelte und aufhielt.
    Wird der Umschlag klein oder groß sein?
    Der Eiswagen tauchte wieder auf, und Kinder stürmten auf ihn zu, die Erwachsenen im Schlepptau. Irgendwer hatte in der sengenden Hitze zur Erfrischung den Hydranten aufgebrochen. Nicht weit entfernt spielten Teenager Basketball. Während der Postbote näher kam und ich ihn nicht aus den Augen ließ, rief ich mir wieder Perrys Worte in Erinnerung: »Egal, wie es ausgeht, du wirst zurechtkommen.«
    Jetzt kam nach Wochen und Monaten voller Angst und Sorgen, voller Ärger und Unbehagen die Antwort, auf die ich so lange gewartet hatte, und sie wichen einer einfachen Erkenntnis: Der Brief verkündete nur, was immer er bezweckte, und es gab nichts mehr, was ich jetzt tun konnte, um irgendetwas an seinem Inhalt zu ändern. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich bereits alles getan hatte, was in meiner Macht stand.
    Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
    In meinem Leben haben sich Dinge für mich zum Besseren gewendet, da ich mich auf die wenigen Bereiche meines Lebens, in denen ich etwas ändern konnte, konzentriert habe; darüber hinaus habe ich eingesehen, dass es zusätzlich enorm viel gab, an dem ich nichts ändern konnte.

    Es war mir nicht möglich, Sam vor ihrer Familie zu bewahren, aber ich konnte ihre Freundin sein. Ich konnte Carlos nicht ändern, aber es war mir gelungen, aus dieser Beziehung auszubrechen und mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich konnte meine Eltern nicht gesund machen, sosehr ich es auch wollte, aber ich konnte ihnen vergeben und sie lieben.
    Und ich hatte die Möglichkeit, mein Leben so zu gestalten, dass es nicht durch Vorfälle aus meiner Vergangenheit eingeschränkt wurde.
    Während ich also auf den Postboten wartete, wurde mir immer deutlicher bewusst, dass der Brief von Harvard, was immer er auch preisgeben würde, nicht über das Schicksal meines Lebens entschied. Stattdessen begann ich langsam zu verstehen, dass mein Leben unabhängig davon war, wie sich die Dinge von jetzt ab entwickelten, unabhängig davon, wie die nächste Etappe lautete, niemals nur die Summe eines einzigen Sachverhalts sein würde. Mein Leben würde sich wie gehabt nach meiner Bereitschaft ausrichten, einen Fuß vor den nächsten zu setzen, vorwärtszugehen, komme, was da wolle.

Epilog
    Ich war eine Person unter vielen, die in Buenos Aires in der Haupthalle eines Konferenzzentrums Platz nahmen und auf das Erscheinen des Dalai Lama warteten. Es war Hochsommer, und die Klimaanlage war überfordert; mein Kostüm fing an zu kratzen, und ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her, der zwar weit vorn, aber seitlich zur Bühne stand. Ich musste mich anstrengen, eine gute Sicht über die Köpfe der Leute hinweg zu ergattern; das Publikum bestand aus erfolgreichen Unternehmern aus aller Herren Länder. Siebenhundert Menschen hatten sich hier zu einer jährlichen Konferenz zum Netzwerken und zur gegenseitigen Inspiration zusammengefunden; der Dalai Lama eröffnete als Hauptredner die Tagung. Ich würde nach ihm an das Rednerpult treten.
    Nach dem Vortrag hatte eine Handvoll Führungskräfte die seltene Gelegenheit, sich an den Dalai Lama zu wenden. Die meisten der Anfragen waren sehr komplex – politischer oder philosophischer Natur –, und zu ihrer Beantwortung nahm sich Seine Heiligkeit viel Zeit. Mit Unterstützung eines Übersetzers beantwortete er zehn bis fünfzehn Minuten lang jede einzelne Frage gewissenhaft und

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