Als der Tag begann
Gesprächstermin bei dem Harvard-Alumnus zu bekommen, und jeder setzte sich dafür ein, mich gut darauf vorzubereiten. Die Lehrer der Prep riefen New Visions auf den Plan, eine Organisation, die staatliche Schulen und Alternativschulen in New York unterstützt, ihre Absolventen auf den harten Wettbewerb um eine gute Ausbildung vorzubereiten. New Visions schickte eine Mitarbeiterin vorbei, die mit mir in einem Banana-Republic-Laden einkaufen ging, damit ich etwas Ordentliches zum Anziehen hätte. Lisa und ich benahmen uns in dem Geschäft wie zwei kleine Kinder; wir lachten, rissen Anziehsachen aus den Regalen und hielten Kleider hoch, um sie uns gegenseitig vorzuführen. Die Mitarbeiterin half mir dabei, einen langen schwarzen Rock und ein elegantes Oberteil mit langen Ärmeln auszusuchen. Die Organisation bezahlte mir sogar die passenden Pumps dazu.
Das zweite Gespräch verlief wie das erste sehr zufriedenstellend, und ich hatte ein gutes Gefühl. Aber danach wusste ich immer noch nicht genau, wie es weitergehen würde. Man sagte mir, ich sollte auf einen Brief warten, der über mein Schicksal entscheiden würde. Mir blieb nichts anderes übrig.
In diesen letzten Wochen an der Highschool ging es nur noch darum, welche Größe der Briefumschlag hätte, den der Postbote bei mir abliefern würde. Laut meiner Lehrer bedeutete ein großer per Einschreiben verschickter Umschlag oder gar ein Päckchen gute Neuigkeiten, denn darin wären seitenweise Orientierungsmaterial und Kalenderdaten enthalten; es wäre ein Brief, der mir
Einlass gewähren würde zu den imposanten Ziegelgebäuden in New England. Wohingegen ein kleinformatiger Umschlag nur schlechte Nachrichten verkünden könnte, es wäre ein einziges Blatt, auf dem unter dem Briefkopf eine formale Absage stünde, abgestempelt mit dem purpurroten Wappen der Harvard University. Dieses Wappen hatte sich während der letzten Monate in mein Gedächtnis gebrannt: Es war mir bei meinen unzähligen Recherchen im Internet begegnet, auf den Bewerbungsunterlagen, in die ich mich in aller Ruhe vertieft hatte, und in meinen Träumen.
In meinem Kopf drehte sich alles nur noch um Harvard, und das seit Monaten. Am Anfang spielte sich das Ganze noch in vernünftigen Bahnen ab, mit Nachforschungen über Zulassungsquoten, Kursangebote und das Leben auf dem Campus. Und das war doch ganz natürlich, fand ich, angesichts meines Status als aussichtsreiche Bewerberin. Aber durch die Tatsache, dass ich auf der Warteliste stand, weitete sich das standardmäßige Zeitfenster von vier Monaten zwischen Bewerbung und Antwort auf unerträgliche sechs Monate aus, und da gab ich mich einer zugegebenermaßen sinnlosen und zwanghaften Faktensammlerei hin.
Wer zum Beispiel wusste schon, dass die enormen Beulen auf den Wegen in den Harvard-Höfen von Kanonenkugeln aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg stammten, die unmittelbar vor den Fenstern der Wohnheime hinuntergegangen waren? Oder dass zweimal im Jahr im Harvard Yard ein Ritual stattfindet, das sich »Urschrei« nennt, und zwar um Punkt Mitternacht in der Nacht vor den Abschlussprüfungen? Die Studenten versammeln sich zu diesem Zweck im Garten, um ihren Examensstress abzubauen, indem sie mindestens eine Runde nackt durch den Garten joggen – auch im Winter. Der fesselndste Moment während meiner Nachforschungen war der, als ich mir die Anzahl der Kilometer – fast dreihundertzwanzig – zwischen dem Harvard-Gelände und meiner Türschwelle ausrechnete.
Diese Tage, an denen ich auf der Suche nach nutzlosen Informationen im Internet umherstreifte, fühlten sich für mich so an,
als machte ich Fortschritte. Ich konnte nicht einfach nur wartend herumsitzen; ich brauchte das Gefühl, etwas zu tun.
Aus diesem Grund lebte ich nur noch für meine Gänge zum Briefkasten. Jeden Tag marschierte ich zielstrebig und voller Erwartung von der Haltestelle Bedford Park zu meinem Wohnhaus, wo ich den Schlüssel in das Briefkastenschloss rammte, begierig auf Neuigkeiten. Aber über Wochen hinweg kam gar nichts. In diesen Momenten fühlte ich mich wider Willen wie Ma am Zahltag, ungeduldig und unruhig lief ich in der Wohnung hin und her, als würde durch meine Bewegung die Post schneller ankommen. Als ob irgendetwas, das ich in New York City tat, Einfluss hätte auf die Entscheidung eines Komitees in Cambridge, Massachusetts.
Der Druck, unter den ich mich da setzte, kam mir bekannt vor. Mein ganzes Leben war eine Anhäufung von immer gleichen
Weitere Kostenlose Bücher