Als der Tag begann
detailliert. Als sich die für ihn vorgesehene Zeit schließlich dem Ende zuneigte, suchte einer seiner Mitarbeiter den Raum
ab, um den letzten Fragesteller auszusuchen. Als Ko-Rednerin an diesem Tag fiel die Wahl auf mich. Ich bekam die Erlaubnis, dem Dalai Lama eine einzige abschließende Frage zu stellen. Aber was sollte ich ihn fragen? Plötzlich war es still in der Halle, und aller Augen richteten sich auf mich; Hunderte von Unternehmern und Seine Heiligkeit persönlich blickten mich abwartend an. Was dann passierte, würde sich als eine der wichtigsten Lektionen meines Lebens erweisen …
Doch zuerst einmal eine kurze Erklärung, wie dieser Tag überhaupt zustande kam. Mein Zusammentreffen mit dem Dalai Lama war ein Ereignis mehr in meinem Leben, das meine Freunde in der Bronx dazu brachte, mir den Spitznamen »Forrest Gump« zu verpassen. Im Lauf der Jahre haben sie sich daran gewöhnt, dass ich in die verschiedensten Länder reise und mit Tausenden von Leuten in Workshops und Vorträgen zusammenarbeite, um inspirierend auf andere Menschen einzuwirken. In New York City habe ich Manifest Living gegründet, eine Firma, die unter meiner Leitung Erwachsene darin bestärken will, ihrem Leben eine ganz besondere Bedeutung zu geben. Durch diese Arbeit ging ich selbst einen Weg – das ergab sich einfach so –, der eine ganz besondere Bedeutung für mich hat.
Ich hatte keine Ahnung, dass sich die Dinge so entwickeln würden. Der New-York-Times- Artikel mit meinem Foto war der Anfang; andere Medienberichte folgten: Artikel in Zeitschriften, eine Sondersendung in den 20/20 -TV-Nachrichten und sogar ein Film auf Livetime Television : Homeless to Harvard: The Liz Murray Story . Die darauf folgenden Ereignisse waren so bedeutungsvoll und facettenreich, dass ich ihnen hier in Kurzform nicht gerecht werden kann – sie stehen für eine ganz eigene Geschichte. Was ich an dieser Stelle sagen kann, ist, dass meine Jahre in Harvard bis zu meinem Abschluss im Jahr 2009 erfüllt sind von Erlebnissen, die mich Lektionen über die Stärke des menschlichen Geistes gelehrt haben; die Wahrheit, dass alle Menschen aus allen sozialen Schichten in Notsituationen geraten können und lernen müssen, sich daraus
zu befreien. Letzten Endes inspirierten mich diese Erfahrungen, einen Workshop zu entwickeln, der darauf ausgerichtet ist, Menschen die Kraft zu vermitteln, ihr Leben zu ändern. Dies ist meine Leidenschaft und die Arbeit, der ich heute mein Leben widme.
Während der letzten Jahre bin ich viel gereist, habe gearbeitet und studiert, dann wieder nur studiert und dann meine Ausbildung sogar für ein ganzes Jahr unterbrochen. Mein Zuhause war immer in New York City, wo meine Freundschaften und die Zeit, in der ich mich um meinen Vater kümmerte, zum stärksten Fundament meines Lebens wurden.
Daddy hatte aufgehört, Drogen zu nehmen, als er HIV-positiv diagnostiziert wurde. Sein Wohnheim half maßgeblich dabei, die richtigen medizinischen Einrichtungen für jede einzelne seiner Krankheiten zu suchen. Schließlich und endlich, nach über dreißig Jahren knallharten Drogenkonsums, war Daddy HIV-positiv, er musste wegen starker Schäden dringend am offenen Herzen operiert werden, hatte Hepatitis C, und seine Leber war schwer zirrhotisch und so verhutzelt wie ein verkalkter Schwamm.
An einem Nachmittag in einem der ersten Semester am College war ich gerade im Harvard Yard, als ich einen Anruf erhielt, in dem mir ein Arzt mit gedämpfter Stimme mitteilte, wie ernst die Lage sei. Als Peter Finnertys Bevollmächtigte in allen medizinischen Fragen sollte ich »besser nach New York kommen, bevor es zu spät ist«, sagte er. Daddy hatte einen Herzinfarkt gehabt und erhielt nun lebenserhaltende Maßnahmen. Ich hetzte zum Bus (eine Reise, die zur Routine geworden war), und als ich bei ihm ankam, stand schon ein Geistlicher an seinem Bett und gab ihm die Letzte Ölung. Ich hielt Daddys Hand und suchte in seinem Gesicht nach Lebenszeichen, aber seine Augen waren geschlossen, und die Schläuche, durch die er atmete, hoben und senkten nur seine Brust. Seine Stirn lag unbewegt in Falten da, wie eingefroren in Sorge.
Irgendwie überlebte Daddy diese und andere Begegnungen mit dem Tod, deshalb gaben ihm meine Freunde – die mich bei der
Pflege unterstützten und ihn auch gern neckten, um ihn bei Laune zu halten – einen Spitznamen, der Daddy immer zum Kichern brachte, als sie die Beatmungsschläuche entfernt hatten: »Peter Infinity« – Peter
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