Als der Tag begann
immer du selbst sein wirst. Egal, auf welches College du gehst, zu welchem Vorstellungsgespräch, egal, in welchen Beziehungen du landest, egal was … Die Antwort aus Harvard hat nur nebensächlich etwas damit zu tun, wer du bist. Also drück auch mal bei dir ein Auge zu … Egal, wie es ausgeht, du wirst zurechtkommen.«
Ohne mein Vertrauen und meine Zuneigung zu Perry hätte ich vielleicht das Gefühl gehabt, er wolle damit etwas schmälern, das mir wichtig war. Oder dass er in seiner privilegierten Pose eine Gleichgültigkeit an den Tag legte, die es ihm unmöglich machte abzuschätzen, warum Harvard jemandem wie mir so viel bedeutete. Aber ich liebte und respektierte Perry, und mein Zutrauen zu
ihm riet mir, seinen Rat zu berücksichtigen. Also nickte ich und sagte: »Gut«, aber ich war offensichtlich verstört.
»Sieh mal, Lizzy, alles, was ich damit sagen möchte, ist, dass du das Beste daraus machen wirst. Blick auf dein Leben zurück – du hast das bereits getan … Daher weiß ich auch, dass du zurechtkommen wirst. Versuch mal, dich zu entspannen, und hab ein bisschen Mitgefühl für dich selbst.«
Diese Worte brachten mich dazu innezuhalten. Die Vorstellung, dass ich es verdient hatte, mich zu entspannen, dass ich es mir sogar leisten konnte, und dann der Gedanke an Mitgefühl für mich selbst …
Nachts lag ich wach im Bett (nachdem ich bei meiner Rückkehr nichts im Briefkasten vorgefunden hatte) und grübelte über Perrys Worte nach, ließ sie mir wieder und wieder durch den Kopf gehen, während ich mir allmählich über ihre Bedeutung klar wurde. In meinem unaufhörlichen Kampf ums Überleben hatte ich mir schlicht und ergreifend nicht einen einzigen Moment lang Zeit genommen, über die enorme Tragweite meiner Erfahrungen nachzudenken und wie ich durch sie beeinflusst worden war. Aber wie sollte ich mir denn auch für so etwas Zeit nehmen? Es gab einfach immer viel zu viel zu tun. Jeden Tag warteten alltägliche Bedürfnisse, die ich nicht aufschieben konnte und die befriedigt werden mussten, Hausaufgaben, die erledigt, und dringende Probleme, die gelöst werden mussten.
Aber nachts im Bett verlangsamten Perrys Worte das hektische Tempo meines Lebens und erteilten mir die Erlaubnis, mir Zeit zu nehmen, einfach nichts zu tun, einfach nur zu denken und zu fühlen. Allein in meinem dunklen Schlafzimmer kamen schwierige Dinge an die Oberfläche. Vergraben unter all den Erfolgen und der lärmenden Geschäftigkeit meines Lebens, lag ein herzzerreißender Katalog von Verlusten: Daddy, der mich ohne ein einziges Wort des Protests in die Obhut des Staates weitergereicht hatte; Ma im Krankenhaus, die lautlos irgendwelche Worte vor sich hinmurmelte; die einsamen Nächte in einem Treppenhaus, in denen
ich mich fragte, wie lange es wohl dauern würde, bis irgendjemand bemerkte, dass ich verschwunden war. Ich lag unter meiner Bettdecke und erlaubte meinen Gefühlen, Macht über mich zu gewinnen. Ich schmeckte das Salz meiner Tränen, ließ sie laufen, erspürte die Ecken in meinem Herzen, wo es am schlimmsten gebrochen war, und dann gab ich mir endlich die Erlaubnis zu trauern. Ich weinte, bis ich nicht mehr weinen musste.
Als ich mir gestattete, mein Leid zu erfahren, und mich nicht länger dagegen wehrte oder es durch Ablenkungen zuschüttete, nahm eine weitere Erkenntnis Form an. Gewillt, mich meinem Schmerz zu stellen, sah ich seine Kehrseite, und die kleinen, unsichtbaren Siege meines Lebens rückten in den Mittelpunkt: die unzähligen Liebesbeweise meinen Eltern gegenüber; wie ich es schaffte, morgens bei meinen Freunden aus den Federn zu kommen, um zur Schule zu gehen; meine Jobs, damit ich selbst für mich sorgen konnte; wie ich mir die Haare zurückband und mit meinem Gegenüber Blickkontakt riskierte; meine aufrichtigen, liebevollen Freundschaften; jeder einzelne Tag, an dem ich weitergemacht hatte – und mir alles andere lieber gewesen wäre. Indem ich mein Leid annahm, war ich in der Lage, meine Stärke angesichts so vieler Verluste zu akzeptieren.
Mehr als alles andere jedoch verankerte ich in meinem Herzen die Gewissheit, dass ich tatsächlich zurechtkommen würde, so wie Perry gesagt hatte. Es waren furchtbare Dinge passiert, aber jetzt hatte ich Frieden gefunden. Ich schlief nicht mehr länger irgendwo draußen, sondern sicher in meinem Bett. Und dann konzentrierte ich mich in der ersten Nacht seit Monaten auf etwas anderes als meinen Zulassungsbescheid, und ich ließ mich durch die
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