Als der Tag begann
Monster!«
Leonard stand der Vorstellung, Kinder zu haben, im gleichen Maße ablehnend gegenüber, wie er pessimistisch und pathetisch war. Und er hatte überhaupt keine Hemmungen, dies kundzutun. Während seiner Besuche konnte ich durchgehend seinen Beschwerden lauschen, die er im Bühnenflüsterton Ma vortrug, gleich nebenan und bei offener Tür.
»Jeanie, die sind so was von undankbar. Ich weiß gar nicht, wie du das schaffst.« Er nuckelte immer deutlich hörbar an seiner Zigarette
und machte ein kurzes Schmatzgeräusch, wenn er sie wieder aus dem Mund nahm. »Ich ertrage die schon nicht bei der Arbeit. Gott möge dir beistehen hier mit ihnen bei dir zu Hause .«
»Ach, Leonard, hör auf«, widersprach sie schwach.
Das war die einzige Antwort, die Ma dazu einfiel. Ich würde ja gern glauben, dass es Leonards Scheck war, der Ma stillhalten ließ, aber ich werde mir nie sicher sein, warum sie so selbstgefällig dasaß und ihr Bier schlürfte, unempfänglich für seine Verbalattacken gegen uns.
Wenn ich mich nur mit dieser miesen Angewohnheit von ihm hätte rumschlagen müssen, hätte ich Leonard Mohn wahrscheinlich erduldet. Was ihn allerdings von der Sparte »nervtötend schwierig« in die Kategorie »unmöglich, mit ihm auszukommen« katapultierte, war diese eine, immer wiederkehrende Unterhaltung mit Ma, in der es um ihren gemeinsamen Status, HIV-positiv zu sein, ging. Dieses Gespräch ständig mit anzuhören, tat zu sehr weh. Deshalb musste ich vor ihm flüchten, und damit auch vor ihr.
Das Thema kam immer auf den Tisch, wenn die Wirkung des Kokains nachließ, in der Phase, wenn der Rausch an Kraft verlor und die Realität mit einer Welle aus Melancholie in ihre Körper zurückströmte.
»Jeanie, mein Herz rast, Jeanie, halt meine Hand.« Auch wenn sie meine Hand seit Jahren nicht mehr gehalten hatte, auch wenn die letzte richtige Umarmung von ihr in der Nacht stattfand, in der sie mir von ihrer Diagnose erzählt hatte, saß sie dann da und umklammerte Leonards Hand, ihre Finger ineinanderverschlungen.
»Jeanie, ich will einfach nicht krank werden«, sagte er. »Na ja, irgendwann werden wir krank werden, aber wenigstens müssen wir niemals alt sein. Nein, das wird uns Gott sei Dank nie passieren. Bist du dafür nicht dankbar, Jeanie?«
Meistens war ich, wenn sie so miteinander redeten, keine drei Meter weit entfernt, auf dem Sofa, in Hörweite. Nahe genug, dass ich das saure Bier riechen, den Zigarettenrauch bis in den Flur
sehen und jedes seiner verzweifelten Worte verstehen konnte, die, durch seine Tränen verzerrt, so unverhohlen ausgesprochen wurden.
»Oh, Jeanie, in gewisser Weise ist es ja ein Segen. Die guten Jahre sind sowieso alle vor vierzig gelaufen.«
»Ich weiß, Leonard, das ist das Gute daran«, pflichtete sie ihm bei. »Wie werden nie alt sein.«
Jede Illusion, dass Mas und Daddys Drogensucht irgendwie harmlos sei, löste sich mit ihrer Diagnose und dem Eindringen von Leonard in unser Leben in Luft auf. Eines Tages war auch meine Bereitwilligkeit erschöpft, Zeuge des Ganzen zu sein: der Anblick der nackten Arme meiner Eltern unter dem flackernden Neonlicht ; der exakte Moment, in dem die Nadel ihre Haut durchsticht, so dünn und verletzlich wie die Schale einer Traube; ihr Blut, das in einer roten Wolke die Spritze hinaufgezogen und dann wieder zurückgeschossen wird und so diesen elektrisierenden Rausch auslöst, der in ihren überraschten Gesichtern seinen Ausdruck findet. Dann überall Blut — Blutsprengsel auf den Wänden, auf ihren Klamotten, auf einer frischen Packung Weißbrot, auf der Zuckerdose. Vielleicht war es am schlimmsten, dabei zusehen zu müssen, wie sie eine Stelle ihres Körpers immer wieder benutzten, die Art und Weise, wie diese Stelle anschwoll und sich dunkel verfärbte, dann glänzte und sogar stank. Die Art und Weise, wie Ma nach einem brauchbaren Stück Haut auf ihren Füßen oder zwischen ihren Zehen suchte. Weit mehr als der Anblick von Blut war es jedoch ihre Verzweiflung, die für mich mit der Zeit immer unübersehbarer wurde. Genauso war’s — vor mir lief ein permanenter Film ihrer Verzweiflung ab, als säße ich allein in einem dunklen Kino und sähe mir in Zeitlupe einen gruseligen Schwarz-Weiß-Film über ihr Leben an, das in Trümmer brach und schließlich in Flammen aufging. Es zermürbte mich, und wo ich mich einst so abgemüht hatte dazuzugehören, war ich der ganzen Sache nun überdrüssig und wollte nur noch weg, um allem zu
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