Als der Tag begann
Ma?«
Ich war hellwach. Ich beobachtete den Regen hinter Ma, als sie im Licht der Straßenlaterne weiterweinte. Meine Mutter wurde zu einer Silhouette, wie ein schlichtes, ausdrucksloses Gemälde. Nur wenige Minuten zuvor hatte es genauso gleichmäßig geregnet, und Ma war augenscheinlich vom Sterben weit entfernt. Irgendwie standen mein Bett und meine Möbel noch am gleichen Platz, die Schatten der Gittervorrichtung am Fenster blieben unbeweglich auf der Wand, aber Ma hatte sich verändert.
Sie nahm mich fest in den Arm, wobei sie mir ihre Bierflasche in den Nacken drückte. Aneinandergeklammert sanken wir auf mein Bett und blieben lange, ungläubig und leise schluchzend darauf
liegen. Meine Mutter und dieses Ding, beide neben mir auf dem Bett, beide in meinen Armen. Hielt ich sie fest, hielt ich es auch fest und teilte sie und nahm das an mich, was ich dem Alkohol und der Krankheit entreißen konnte.
»Ma … du kannst nicht gehen.«
»Nicht gleich, mein Schatz. Ich werde noch eine Weile hier sein. Auf jeden Fall noch ein paar Jahre.«
» Was? Nein, Ma!«
Jetzt war ich es, die unkontrolliert schluchzte und mich an meinen eigenen Tränen verschluckte.
»Im Ernst, ich werde noch sehr, sehr lange da sein. Keine Sorge, ich gehe nirgendwohin. Ich liebe dich, mein Schatz. Ich werde nicht sterben. Mommy wird noch ganz lange nicht sterben. Vielleicht habe ich ja gar kein Aids, wer weiß. Kümmere dich nicht darum, was ich gesagt habe.«
Aber es war zu spät. Ich kannte Ma viel zu gut, ihr Unvermögen, Geheimnisse für sich zu behalten. Ich war mir sicher, dass es stimmte. Sie konnte es nicht einfach wieder zurücknehmen. Ich hoffte so sehr, dies sei nur eine Wahnvorstellung, ein Anzeichen für einen bevorstehenden Anfall, aber ich wusste, es war echt.
»Aber gerade hast du gesagt … Ma, lüg mich nicht an. Wirst du sterben?« Ich keuchte und verschluckte mich an meinen Tränen; ich war vollkommen hysterisch.
Plötzlich stand Ma auf und griff nach dem Türknauf.
»Vergiss es, Lizzy«, sagte sie, »und schlaf jetzt endlich. Kümmere dich nicht um das, was ich dir gesagt habe. Wer weiß schon, was ich habe. Heutzutage weiß doch niemand irgendwas. Mach dir keine Sorgen, ich hab’s nicht ernst gemeint. Alles ist in Ordnung, mir geht’s gut.« Sie nahm einen Schluck aus ihrer Flasche. »Uns wird’s richtig gut gehen«, fügte sie noch hinzu, bevor sie das Zimmer verließ und die Tür hinter sich zuzog.
»Warte«, schrie ich, »warte! Ma ! … Maaa!« Ich wusste, sie war deshalb weggegangen, weil ich es versäumt hatte, die richtige Antwort zu geben. Das musste der Grund für ihr Weggehen sein. Ich
hasste mich für mein Gejaule, für meine Bedürftigkeit. Immer wenn ich etwas zu sehr brauchte, stieß es Ma und Daddy von mir weg. Ich hätte es besser wissen müssen. Ich rief ein letztes Mal nach ihr: »Maaa!«
Aber so laut ich auch rief und so viel ich auch weinte, sie kam nicht zurück. Und auch ich konnte mich nicht aufraffen, ihr nachzurennen. Irgendwie würde das Aufstehen aus dem Bett diesen Moment noch wirklicher werden lassen.
Ich atmete tief ein und versuchte mich zu beruhigen; ich klammerte mich an meinen Laken fest, um mein Zittern in den Griff zu bekommen. Die Stille machte den Raum noch leerer als zuvor. Nur zehn Minuten vorher hatte ich noch geschlafen, und Ma hatte kein Aids.
Sosehr ich auch alles zusammenhalten wollte, ich brachte immer alles zum Zerfallen. Ich versuchte Ma zu helfen, ihr das zu geben, was sie brauchte, aber irgendwie machte ich dadurch alles nur noch viel schlimmer. Wohl wissend, wofür sie das Geld benötigte, gab ich ihr immer noch unzählige Male mein Trinkgeld fürs Tütenpacken oder die Dollarscheine, die auf die Innenseite meiner Geburtstagskarten aus Long Island geklebt waren. Es traf mich wie ein harter Schlag auf die Brust, dass ich sie in den Wahnsinn getrieben und auch noch für die Nadel bezahlt hatte, mit der sie sich die Aids-Infektion geholt hatte.
»Idiot«, sagte ich laut. »Schwachkopf.«
Ich warf ein Kissen quer durch das Zimmer und zertrümmerte Teile meines Dioramas. Der Eisstäbchenzaun fiel zu Boden und zerbrach in zwei Hälften.
4
Zusammenbruch
Wenn unsere Wohnung schon vorher eine Welt für sich war, dann lebten wir vier, als ich zwölf Jahre alt war, auf völlig verschiedenen Kontinenten; jeder für sich in seinem abgeschlossenen Zimmer, losgelöst und so unabhängig voneinander dahintreibend, dass ich befürchtete, wir fänden niemals wieder
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