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Als der Tag begann

Als der Tag begann

Titel: Als der Tag begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Murray
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entfliehen.

    Wenn Ma und Daddy zu ihren nächtlichen Gelagen aufbrachen, ging ich nicht mehr mit Daddy mit und erklärte ihm nie, warum. Vielmehr regte sich in mir ein ausgeprägter Widerstand, durch den ich mich gezwungen sah, mich leise durch die Haustür davonzuschleichen, um ziellos die Fordham Road entlangzuwandern, die verlassene Einkaufsstraße hinauf und hinunter, ganz allein. In manchen Nächten durchwühlte ich die Müllsäcke auf dem Gehweg nach fehlerhafter Bekleidung aus den Geschäften, den Trick hatte mir Daddy beigebracht. Ich füllte meinen Rucksack mit kaputten oder schlampig zusammengenähten Anziehsachen, während meine Eltern ihr Drogenprogramm absolvierten und mitunter bis zum Sonnenaufgang unterwegs waren. Tatsächlich sah ich Daddy einmal die Fordham Road entlanghasten, sprach ihn aber nicht an. Ich stand einfach nur stillschweigend vor den Müllsäcken und beobachtete ihn, wie er in Höchstgeschwindigkeit Richtung Grand Avenue eilte. Hätte ich seinen Namen gerufen, wäre ich aus irgendeinem Grund traurig gewesen; nicht nach ihm zu rufen hatte jedoch denselben Effekt.
    An manchen Tagen machten sich die Kinder in der Schule über meine komischen Klamotten lustig, eine auf den Rücken des Hemdes angenähte Tasche oder ein zu kurzes Hosenbein an meiner sonst zu großen Jeans. Meistens mied ich die Schule und nahm eine völlig andere Route, auf der ich dann frühmorgens am Met-Food-Supermarkt ankam, um dann etwas abseits der Kassiererinnen darauf zu warten, bis der Manager den Laden aufschloss und das Gitter hochschob.
    Es ist nicht so, dass ich niemals in die Schule ging; ich durchlief sie so, wie man ein Netz durchs Wasser zieht: Mitgenommen wird das, was ohne großen Aufwand hängen bleibt. Jegliche Schulbildung, die ich genoss, stammte aus den paar Tagen Unterricht, an denen ich anwesend war, vermischt mit dem Wissen, das ich durch die rein zufällige Lektüreauswahl von Daddys ständig wachsendem Stapel aus nicht zurückgegebenen Bibliotheksbüchern in mich aufsog. Solange ich noch regelmäßig in den letzten paar
Schulwochen zu den standardisierten Prüfungen aufkreuzte, hangelte ich mich mit Ach und Krach von einer Klasse in die nächste.
    Wenn ich die Schule schwänzte, stromerte ich herum oder fuhr kreuz und quer mit der U-Bahn; ich durchreiste die gesamte Bronx und Manhattan allein wegen des Gefühls, in einer Gruppe von Menschen zu sitzen, als Hintergrundgeräusche Gespräche und Streitereien, singende Bettler und natürlich mein Lieblingsgeräusch: Lachen. Zwischen diesen Menschenansammlungen konnte ich mich fast auflösen – wer bemerkte schon ein kleines dünnes Mädchen mit ungekämmtem, speckigem Haar, das dringend eine Dusche brauchte? Das, wenn es sich eine Kapuze über den Kopf zog und den Blick immer gesenkt hielt, schier unsichtbar war? Obwohl ich Angst hatte, von einer Schulschwänzerstreife aufgegriffen zu werden, war es das Risiko wert. Ich brauchte einfach Leben um mich herum – den Puls und die Lebendigkeit von Menschen auf dieser Welt, die etwas unternahmen. Ich tauschte die Schule dafür ein. Ich tauschte mein Zuhause dafür ein. Bald fehlte ich regelmäßig an zwei Orten: einmal in der Schule und das andere Mal in unserer Wohnung.
    Manchmal war ich in Begleitung. Rick und Danny ließen Schule Schule sein, um mit mir in der U-Bahn Nummer vier zu fahren, stundenlang die Lexington-Avenue-Strecke hin und her. Diese Art von Schuleschwänzen war nicht so friedlich wie meine einzelgängerischen Ausflüge, sondern gekennzeichnet durch Abenteuer. Im Zug schaukelten wir an den Halteschlaufen und stießen die leeren Schaffnerkabinen auf, um die Lautsprecheranlage für die Durchsagen zu benutzen: Sandwichs und Getränke gäbe es im letzten Wagen. Wir warfen Stinkbomben – kleine Glasröhrchen, gefüllt mit der am widerlichsten stinkenden Flüssigkeit überhaupt – auf den Boden und ergötzten uns daran, wie die Leute vor Ekel das Gesicht verzogen.
    Bowling Green war die einzige Station, an der wir jemals ausstiegen (außer wir wurden vom Schaffner verjagt); hier nahmen wir die Staten-Island-Fähre. Wenn wir auf dem unteren Deck
standen, mit nach vorn gerichtetem Blick, sprühte uns die Meeresbrise auf die Wangen, und der Ozean teilte sich schäumend unter uns. Rückfahrkarten nach Manhattan kosteten zwei Quarters, die man leicht sparen konnte, wenn man sich auf der Männertoilette versteckte (ich unterlag den Jungs bei der Abstimmung mit zwei zu eins). Wir rammten unsere

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